Anfänge
Der Schrei, der in die Gedanken fuhr, dann abriß, und in der Stille immer wieder klang, nachklang wie ein gespanntes Seil, das allmählich zur Ruhe kommt, war von den massiven Rädern der Tram gekommen, von ihren glänzend silbrigen Schienen, und wiederholte sich in den Köpfen, das Geräusch sandig abrupten Bremsens überlagernd, das ihm gefolgt sein mußte. Die Starre war endlos, bis schließlich aus der Schlange an der Ecke vor dem Milchladen eine Kanne zu Boden fiel und matt scheppernd über das Trottoir rollte, unregelmäßig, dem Rinnstein zu, wo sie hängenblieb. Die Kinder, Einkaufszettel in den Händen und abgezähltes Geld, verstanden nicht, sie suchten in den Augen der Erwachsenen nach Erklärungen, und selbst jene, die sich vorgewagt hatten und zum Unglücksort über die Straße gelaufen waren, ängstlich getrieben, ließen den dunklen Körper auf der Mitte der Kreuzung nicht in ihr Denken und Fühlen ein, noch das Blut und den Schuh, der abseits lag. Schwanger sei die Verunglückte gewesen, hieß es später in den Häusern.
Die Weite dieser Sommer. Oder die Herbste, üppig leuchtend in fatalen Farben, wenn die Sonne ausglühte und Ferne mischte ins Spiel, Ungewisses, Nichterfahrenes. Wenn dann die Nebel aus den Wohnungen lockten in fremde Zusammenhänge, gingen Fragen nach innen, wahr oder falsch, gut, schlecht, Hiersein oder anderswo, und das Radio sprach, später in den Nächten, mit doppelter Zunge, es bewirkte, daß man den Wellen nachsann, die von irgendwo kamen in der Tiefe der Nacht und ihre Wege, sich überschneidend, überlagernd, nahmen in die Häuser durch Stein und Mauerwerk hindurch, hierher in die Provinz dieses Zimmers Der Atem ging dann anders, die Enge verflog und verhieß Neues, Weites, zärtlich unbestimmt.
Kommer sah hinüber zum massigen Gerichtsgebäude an der nördlichen Seite des Platzes. Durch das Portal, wilhelminisch schwer, überkommen, war er oft als Volontär gegangen, später als Redakteur, er war in den nüchternen Sälen Verhandlungen gefolgt mit der unterdrückten Angst dessen, der sich zu Unrecht privilegiert wähnt. War es nicht purer Zufall, daß er in den sicheren Bänken saß, den Block auf den Knien, schreibend? Allzuoft sah er sich an der Stelle des Angeklagten, imaginierte sich Sätze, Rechtfertigungen, die die geschäftigen Roben nicht akzeptieren würden. Im Namen des Volkes.
Hinter dem Gericht, zwischen der alten, die Stadt belagernden Zitadelle und der Allee uralter Kastanien die hohen Mauern des Untersuchungsgefängnisses. Von hier oben schien ihr Überwinden leicht, geradezu ein Kinderspiel. Die lange unverschämte Anlage aus rotem Backstein war den Kindern morgens und mittags in der Tram, während der ersten Wochen des neuen Schulweges, allenfalls eine flüchtige Frage gewesen, man passierte sie in der Sicherheit der jungen Jahre, die Ahnungen ausschloß, das Mögliche, das Realität werden konnte jederzeit. Kommer dachte an die Begegnung mit Schubert, dort unten in seiner Zelle, in der er sein Urteil abzuwarten hatte, später war er auf Transport geschickt wurden, in ein Lager mit Bergwerk in der Nähe, achthundert Meter unter Tage. Das Licht in der Zelle fahl, es drang durch ein hohes, kaum erreichbares Fenster in den kleinen Raum, und Schuberts Gesicht weiß und blaß, während von der Straße jenseits der Mauer Stimmen herüberdrangen, Geräusche von Autos, die vorbeifuhren, und die Glocken einer Uhr. Die Zelle war lang, düster, ein Kübel in der Ecke neben der Tür, und das Bett, aus dem eine dunkle Decke mit weißen Streifen an den Enden hing, war hochgeklappt, an die Wand geschlossen. Schuberts Stimme war schon leblos, sprang nicht mehr wie früher in ironischen Bögen, die Bilder wirkten fern, teilnahmslos, ja unerlebt, er sprach selten und dann mit der unverschuldeten Scham des Verlierers von der fremden Szenerie, durch die er, das glaubte er nun kaum noch, gegangen war in zwei Regennächten, den Rändern des Landes entgegen. Daß es irgendwie gehen würde, war seine Überzeugung gewesen, er war dann in die Stolperdrähte geraten, in aufflammende Scheinwerfer und rotsprühende Leuchtraketen, bis zuguterletzt Parolen nach ihm geschnappt haben mußten, schließlich Hunde in unwegsamem Gelände. Schubert, der Freund von früh an, der, als er ging, ganz auf sich gestellt war, ohne ein Wort zu jemandem, schien auf seinen Versen gegangen zu sein, die davon gekündet hatten schon immer.
Kommer sah sich in Gedanken unter den mächtigen Kastanien weitergehen, in der Kirche zur rechten, dachte er, hatte ihn einst gefroren während der Konfirmandenstunden, die hallende Kälte der hohen Bögen mutete grau an, fremd, exterritorial zur Straße und ihren Geräuschen, und erst später empfand er Schutz unter der menschenleeren Vierung, ein seltsames Gefühl von Geborgenheit, das zu seiner Überraschung nicht aus Texten, nicht aus Ritualen kam.
Die Straße öffnete sich zur Anlage hin, zum Park der kleinen Geheimnisse. Kommer schlug die Blumenstraße ein, bog dann in die Mühlhäuser mit dem Kolonialwarenladen auf der Ecke, wo es Sauerkraut lose gab vom Faß und gegenüber die Kneipe mit dem abgeblätterten Gaststättenschild, nackte Glühbirnen hinter Farbresten: Selters kauften die Kinder dort im Sommer und für die Väter im Hause Bier in großen Krügen, die sie balancierend an ihre kleinen Körper preßten. Schon lag die Friedrichstraße vor ihm, die Straße der Kindheit. Schmale, lächerliche Vorgärten, schmiedeeiserne Zäune, die Chrysanthemen und knorrigen Flieder einzäunten vor den viergeschossigen Jahrhundertwendehäusern in floral–üppigen, dann wieder protzigen Gesimsen, vom Krieg zerschossen, nun weiter verfallend. Und am anderen Ende der Straße die große Kreuzung, das Kindertor zur Stadt mit den Haltestellen der Tram und den lockenden Filmplakaten an den Säulen. In der Mittagssonne liegt die Straße wie immer ausgestorben da, zwei, drei Autos parkend vor den Häusern, gepflegt, schläfrig, bereit zu irgendeiner Fahrt, blitzend und kurze Schatten werfend.
Offenbar hatte sich damals bereits, so schien es Kommer jetzt, etwas festgesetzt, einmontiert in sein Inneres, ein Filter vielleicht, der nicht nur das Wahrnehmen erschwerte, sondern das Handeln selber, die Offenheit, das Leben im Äußeren und Sichverlieren im Augenblick. Unsinnige Kreisbewegungen, diese Versuche, all das Eis abzuschütteln, das im Innern wuchs wie eine böse Frucht, sein wollen wie die anderen, ließ ihn noch mehr erstarren, tiefer sinken wie ein Körper, der sich im Moor noch wehrt, immerhin brachten die Aufbäumungen Klarheit und Bestimmung seines Ichs. Die Schatten der Mächtigen, die weiter gewirkt hatten auf dem einmal bestellten Grund, waren nun eindeutig identifizierbar, das Gegenüber stand fest, die Gegner und Feinde. Kommer sah nun mehr, beobachtete schärfer, aber die Kälte des Geschauten fror auch die Ziele ein, jenes andere, das er vermißte.
Die schwebende Ruhe des Himmels beim Gehen an den grünen Armen der Stadt, die sie zärtlich umfingen, zeitlos, die stummen Gebilde der Wolken, von fernher kommend, über unbekannte Ländern gezogen und doch nur luftige Spiegel ihrer selbst. Kommer las gerne in ihnen, und wenn sich dann der Blick senkte zur begrenzten Erde hin, erschien alles frisch, wie zum ersten Mal, das Grün am Rande des Weges, das in den Schotter hineinwucherte, die tiefdunklen Stämme der Bäume hinterm Unterholz. Das Gehen, Hinausgehen aus der Stadt, hatte etwas Lösendes, je stärker, plastischer, eigenständiger sich die Natur darstellte, desto sicherer blieb alles Gefügte zurück, das Geordnete, die Verstrickungen. Mit jedem Schritt gewann sich der Körper mehr, wurde leicht, wahrnehmend, schüttelte die fremden Blicke ab, gehend sich tragen lassen von der Krümmung des Weges in die unzählbaren Farben und Formen hinein, in die Tiefe der Töne.
Die Entfernungen von der Stadt kräftigten und jedesmal die Verwunderung, daß Mut möglich sei, Zuversicht und im Inneren eine ganz eigene Musik, und wuchsen nicht auch jetzt, zaghaft zunächst, aber doch schon spielerisch Phantasien aus ihrem Schattendasein hervor, jetzt beim Anblick eines Blattes, und was war dagegen das mechanisch Bewußtlose der Stadt und ihres Verkehrs? Kommer liebte diese Augenblicke, er liebte die Nächte, in denen die Nebel wie eine ferne Geliebte lockten, oder die Dämmerung vorm Tage, das Zwischenreich im Bekannten, wenn die Vögel ihre Stimmen über die Schlafenden wölbten als flüchtiges Hörbild. Überhaupt fand er sich leicht im Unausgeloteten, auf den nicht markierten Wegen, die Nadel, die ihn führte, schien in ihm zu sein, ihr Ausschlag natürlich, selbstverständlich, Entsprechungen herstellend.
Bei allem schmerzte der Vergleich mit den Wörtern, die zur Verfügung standen, diesem beziehungsreichen Dazwischen verweigerten sie sich, und Kommer war, während er schrieb, als schöben sich schwere Wände heran, näher und näher, an denen die Wörter abprallten und zurücksprangen auf die gewohnten Gleise einer früh bereitgestellten Öffentlichkeit. Die Sprachfessel, den Kindern bereits angelegt, war, in ihre kleinen Körper mehr und mehr einschneidend, mitgewachsen, also fast ununterscheidbar geworden von Gestik und Blick, ein genialer Streich, dachte Kommer, wäre er absichtsvoll ausgedacht worden zu lebenslanger Verpuppung und sicherer Gefangenschaft. Er wehrte sich gegen den Gedanken, unsicher darüber, wem Recht zu geben war, dem Körper, der leichter wurde an den Rändern der Stadt, oder den falschen Vätern, die er zurückließ dort.
Die Wörter traten ihm auch aus den Büchern entgegen, unter unbeweglichen Formen, die, längst aufgegeben und melodielos, das Ganze, verstand man sie richtig, gegen ihren Willen, beklagten, hinter den großen Parabeln ereigneter Geschichte und ferner, aber unverbindlicher Schicksale war die Leere des Jetzt, die bequemen Rückzüge beschrieben noch in ihrer Abwendung das Unbeschreibliche der Gegenwart, das Unerledigte, Ungeklärte des Tages. Für Kommer waren die Wortsüchtigen zu Opfern ihrer Schreiblust geworden, gerade ihre Unbrauchbarkeit zeichnete sie aus, öffentlich, das war ihre Brauchbarkeit gegen die heimlich entstandenen Bücher an verschwiegenen Orten, gegen jene, die wohl wußten, wie zu schreiben sei, es aber nur noch dem Nächsten sagten im kleinen Kreise. Oder auch nur noch spürten bei nächtlicher Lektüre. Noch die Fremden spürten das Gewaltige dieses Schweigens, die Gewalt, die die Sprache, sich verschweigend, floh, das Ungesagte war ohnehin schon gesagt, das Unsagbare tausendmal bedeutet.
Was entstand, war eine Schwebe, unlebbar bei Lichte und doch kaum zu leugnen. Kommer floh, tauchte weg, stellte sich außerhalb der Geschäftigkeit, der Enge des bloß Sichtbaren. Fragen entstanden, manchmal wie Nadelstiche mitten im Getriebe. Da half nur Gehen, Bewegung, Erwartung, und immerhin kam Linderung aus dem ruhigen Gleichmaß der Schritte und manchmal eine kaum erklärbare Gewißheit, jenseits der schwachen Linie, die das Mittelland gegen den nun abendlichen Himmel zeichnete, könnte das Erhoffte liegen, das Andere, eine neue Zeit, ein wunderbarer Raum und ohne Erinnerung an die jetzt hörbaren Schritte. Doch nur ein Spuk, dachte er dann, eine Unmöglichkeit natürlich, und er lachte vorsichtig in der Angst, das seltsame Gebilde zu zerstören.
Die Schwebe blieb, als Luftwurzeln, die es wohl wirklich gab, das Merkwürdige, nämlich weder zu fühlen noch zu glauben, daß er lebe, obwohl doch Zeit verrann, war nur festzustellen, es führte zu nichts, es führte nicht hinaus, sondern nur tiefer hinein in die Spiegel des Wasser des Sees, in dem er sich nun sah. Daß er sich mehr und mehr geborgen fühlte und geschützt unter dem hauchdünnen Stoff, der ihn langsam überzog, die Innenräume befestigend zunächst, um dann den ganzen Körper zu verbergen wie hinter einem feinen Schild, schien ihm bedrohlich, aber auch eine ungewohnte Freiheit zu sein. Freilich nahmen so die Entfernungen zu den anderen zu, selbst der Haß schwand, war nur die Bewegung auf das Äußerste kräftig genug und genügend durchdacht.
Das Erinnern, treppab, tiefer und tiefer in die Jahre zurück, zu den Schatten der Überlebensgroßen, die, höher als Türme, alles überragten, bestimmten, und daß sie unser Leben nahmen, für uns sprachen und dachten und die Jahre mischten zu großen lächerlichen Ereignissen, das Erinnern, ein ungewisses Suchen, was ist das jetzt, wo alles eins ist und ineinander und zugleich? Ist da Wahrheit? Nur uns haben wir und unsere Sätze, diese langsamen ungenügenden Annäherungen, was aber geschieht mit all dem Abgetanen, mit den veränderten, mit den gestrichenen, den verschwiegenen Sätzen, welcher Ort bewahrt sie auf, welches Ohr hört sie?
Schwer wog alles im matten Ernst, nur die Liebe navigierte auf dunklem geheimnisvollem Grund, sie tanzte nicht mit inmitten der feindlichen Linien. Tagsüber lag etwas Neutrales auf den jungen Körpern, die Muskeln glänzten beim Sport, bei der Lese auf den Feldern an glühenden Augusttagen. Einzubinden war das Wachsende in stechende Muster und Normen, die sich Greise ausgedacht hatten. Wie anders dann das ungekannte Verströmen, das den Körper lachend beugte und auf fremde Wellen riß, nachts, nach feurigen Träumen, das wie ein Fliegen auf erregten Pferden war in glühenden Schwärzen hinein. Und uneingestanden noch, ja ängstlich der Blick in dieses Reich durch die Schuld hindurch, die vor seinen Pforten errichtet war, mit seltsamem Nachhall jetzt, am klaren Tage. Bedroht war jetzt das Entweichende, Geheimnishafte von Verbot und Zweck.
Das Aufeinanderzugehen, das den Blicken folgte, den vagen Augenspielen, die träumende Hand, die der Wölbung des Halses antwortete, dem fremden Haar, und dann das Sichhalten nach dem Kuß, ein Beben, Zittern, das nicht nachlassen will, ein zweiter, dritter folgte ihm, in allem waren sie, in den Bäumen am Wege, am Himmel, der der Nacht wich, und noch in der unendlich fernen Stadt und ihren Lichtpunkten, der Kuß ordnete alles neu, die Dinge zueinander und sie selbst, im tastenden nimmermüden Radius der Umarmungen zeigte sich eine Welt unter der Welt, alles fiel ab, und mit der Schönheit, die die Hände zögernd erkundeten, schien das Vergessene wiederzuerstehen, ein Staunen, das allem galt und durch alles erst war.
Die Zärtlichen, Einzelne am Tage, verbargen sich hinter erinnernden Blicken. Würde das Gemeinsame dem klaren Licht standhalten und wann, ja wann würde wieder Abend sein im Park über der Stadt? Zu sprechen war darüber kaum, und wie den Erwachsenen begegnen, den Vernünftigen, hatten sie all das bereits wieder verlorenen? War es ihnen nie begegnet? Und wie schließlich mit diesem Geheimnis der Ordnung gegenübertreten, diesem Malstrom von Buchstabengirlanden und Fahnenmeeren, in die sie wie selbstverständlich, ja geradezu natürlich hineinwuchsen, die alles, das Volk kosend, wie es schien, mit riesigen Tentakeln ergriff, Straße um Straße, Fabriken wie Schulen verschlang und auf den großen Plätzen des Landes erst zum Stillstand kam, bei den Ansprachen, Umzügen der Uniformierten, im hohen Stil, der alles begrabend verschlang.