La malvolta
Auf einer Lesung im großen Kombinat waren wir uns begegnet, das hier um die Ecke lag, keine fünf Minuten mit dem Auto entfernt. Er hatte gelesen, ich hatte gelesen vor zig tausend Arbeitern. Ich fand ihn freundlich, zumindest war das seine Stimme. Ansonsten wußte ich wenig von Karberg, ein geschätzter Stückeschreiber, dem die Funktionäre erstaunlicherweise ebenso applaudieren wie die Menschen, die ins Theater gehen. Und ein junger Mann noch, Ende dreißig, dachte ich mir, höchstens.
Sogar Lederer war auf der Lesung zugegen gewesen, er, der sich seit Ende des Krieges Hermlin nennt, und unweit von ihm entdeckte ich Heym, der als amerikanischer Offizier in Berlin einmarschiert war, natürlich war auch der betuliche Henselmann da und Maetzig von der Defa, die Größen dieses Kalibers hatten auf dem erhöhten Podium Platz genommen, das in die riesengroße Produktionshalle aus rohen Planken schnell hineingezimmert worden war, einige der Autoren sah ich während der Lesungen auch verstreut zwischen den Arbeitern, die Luft in der Halle war schlecht gewesen und die Mikrophone knackten und regelten die Lautstärke nach eigenem Gutdünken, die Stimmung war aus meiner Sicht aber gut, offen, sogar ermutigend, und selbst die Lesetexte der Autoren, die etwas Offizielles hatten, wurden zu meiner Überraschung gut aufgenommen und beklatscht. Zwischenfragen gab es so gut wie keine, kompromittierende schon gar nicht, dafür war gesorgt worden.
Wie gesagt, die Bar lag fünf Minuten entfernt von dem Riesenkombinat, und wir, Karberg und ich hatten die Lesungen vor dem offiziellen Ende verlassen und noch Plätze an der Bar gefunden und tranken nun und tranken und redeten über literarische Prosa, wozu Karberg nicht allzu viel wußte. Ein Glas gab das andere, das eisgekühlte Zeug schien in den Flaschen hinterm Tresen nicht weniger zu werden, und wir merkten schon lange nicht mehr, daß der Alkoholspiegel stieg und unsere Zungen schwer machte. Zu unserem großen Glück wurden wir aber später auf der Heimfahrt nicht angehalten, kein Vopo war in Sicht gewesen, kein Bulle, niemand auf der leeren Straße. Vor meinem Haus schien es für Karberg ausgemacht, daß er mich nach oben begleitet, auf einen Kaffee gewissermaßen oder einen Absacker, obwohl wir, wie ich fand, eigentlich genug Alkohol intus hatten. Jedenfalls fragte er nicht, er ging einfach mit, nahm mir vor der Haustür wortlos die Schlüssel aus der Hand und hielt mir schließlich die Tür auf, als sei er hier zuhause und nicht ich. War ich da schon so eine Art Gespiel für ihn? Allerdings spielte ich das Spiel, das ich kommen sah, auch mit und gab mich offen, willenlos. Vielleicht ließ ich ihm zuviel durchgehen, ich wehrte ja nichts ab, auch nicht als er mir den Hals küßte und seine Hände behutsam und entschlossen zugleich auf meine Brüste rutschten. Es macht mir Spaß, dachte ich noch bei mir, diese feste Männerhand auf meinem Körper, das ist doch etwas Reelles. Mochte ich Karberg, gefiel er mir wirklich oder wollte ich lediglich mit einem Mann ins Bett, mit irgendeinem? Womöglich wegen Axels Weggang am Morgen oder wegen des Alkohols, der mir die Sicht nahm, war ich verwirrt und wußte das alles nicht mehr so genau. Karberg aber ließ nicht ab von mir, im Gegenteil, er küßte mich weiter und weiter und ließ seine Hände langsam in Richtung Schoß wandern. Noch aber gefielen mir diese zupackenden Hände, diese Gesten, die mich ablenkten und mich Axel, meinen Geliebten, vergessen ließen. Dann aber, mit einem Mal, plötzlich wie aus dem Nichts, dachte ich wieder an ihn, er hatte am Morgen Türen knallend die Wohnung verlassen, er schreibe nicht wie ich, hatte er noch in die morgendliche Wohnung geschrien, eine eigenständige Persönlichkeit sei er mit eigenen ästhetischen Ansichten, in ein Korsett lasse er sich weder von mir noch von den tumben Funktionären der Kultur zwängen, die ohnehin nichts verstehen. Und Julia, ja Julia tippe seine Texte ab, nichts weiter, nicht das geringste … Wir hatten gestritten, ja, heftig gestritten, aber es ging dabei ja nicht um Ästhetik oder politische Ansichten, es ging um unser Leben und wie es weitergeht, um unser Zusammenleben, wer lebt mit wem, welche Freiheiten hat der andere, was ist ihm verwehrt?
Die Texte, die gelesen wurden, hatten mir zunehmend zu schaffen gemacht, es gab auf die grausligen Sachen weder elegante Erwiderungen noch kritische Stellungnahmen. Ich spürte, wie ein leichter Schwindel in mir aufstieg, geh raus, sagte ich mir, verschwinde, mach dich vom Acker! Mit der Frage, wo die Toiletten seien – Ja, irgendwie diesen Gang entlang, da müssen sie sein! –, verließ ich das Podium und atmete auf. Ich lief durch lange Korridore, an Büros vorbei, deren Türen offen standen, Treppen rauf und dann wieder Treppen runter, und langte schließlich bei den Toiletten an, die sehr verdreckt waren, eine wie die andere, und ich bat eine der Putzfrauen, die in Kittelschürzen, hochgebundenem Haar und einer Zigarette im Mund schweigend den Flurboden wischten, da sauber machen. Ich wartete auf dem Flur, steckte mir ebenfalls eine Zigarette an und trat von einem Fuß auf den anderen, die Putzfrauen aber ließen sich Zeit, und als sie aus den Toiletten zurück waren, würdigten sie mich keines Blicks. Meine Leserinnen, o Gott, dachte ich, hoffentlich sind sie das nicht!
Während er an mir herumfingerte, dachte ich mehr und mehr an Axel, mir war plötzlich klar, was er mir, Streit hin, Streit her am Morgen war, die Gefühle für ihn füllten mich aus – er, der schwierige, der unbequeme, überall aneckende Autor war mehr als alle anderen für mich, viel mehr, ich vermißte ihn unendlich, und wie ich ihn vermißte! Währenddessen hatte mir Karberg, immerhin Autor, gefördertes Mitglied des Schriftstellerverbandes und Liebling der Genossen im ZK, inzwischen den Rock hochgestreift und war beim Slip angelangt, den er jetzt wohl zu zerreißen gedachte. Ich registrierte das Geschehen wie von außen und dachte, daß das nicht mich betrifft, sondern irgendeine Person, mit der ich nicht das geringste zu tun habe. Er fuhr mit der Hand zu meiner Scham und versuchte, mit dem Finger einzudringen. Langsam realisierte ich, daß das kein Spiel mehr war, und langsam wuchs Empörung in mir, Wut, eine ungeheuere Wut, so daß ich mich abrupt umdrehte, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ich wollte seine Augen sehen, wollte sehen, was ihn trieb, ihn, der in der Bar noch nett gewesen war, höflich, ja höflich und zurückhaltend und annäherungsweise klug über Literatur gesprochen hatte, einigermaßen jedenfalls, sogar meine Texte hatte er, warum auch immer, gelobt. War er plötzlich zum Tier geworden und war ich jetzt Objekt, ein benutzbares Ding, das zu allem möglichen einlädt? Hatte er mich an der Bar so mißverstanden oder besser: ich ihn? Hatte er tatsächlich geglaubt, der Wodka würde alles leichter machen und ihm die Tür öffnen? Er erwiderte meinen Blick, indem er flüchtig lächelte, entschuldigend, äußerlich und unsicher, dann aber war die Kälte zurück und fror das Mienenspiel ein, offenbar fiel ihm, das war jetzt zu sehen, die Rückkehr zu dem Wesen schwer, mit dem ich an der Bar freundlich geplaudert hatte. Eine sehr kurze Sekunde lang bedauerte ich das, das Gespräch mit ihm war nicht uninteressant gewesen, unsere Themen hatten sogar Reiz. Andererseits konnte ich mir aus irgendeinem Grunde diesen Mann nicht als Autor vorstellen, unmöglich, ihn als jemanden zu sehen, der schreibt und sein Leben mit Schreiben fristete, obwohl ich wußte, daß die Stücke, die er schrieb, angepaßt waren und auf der Linie lagen, die gewünscht war, und sehr erfolgreich waren, von den Funktionären begrüßt, in der Folge auch von großen Häusern gespielt.
Meine Lesung kam mir in den Sinn, die ich vor Minuten vor den Arbeitermassen absolviert hatte, und hinterher die üblichen Fragen, warum ich schreibe, woher ich die Einfälle beziehe, an wen ich denke, wenn ich an der Schreibmaschine sitze, und ob ich das Land mag, die Leute, die Arbeiter, die doch meine Leser sind. Ich hatte zu allem Ja gesagt und war dabei wohl einsilbig gewesen, unengagiert, was sich den Fragenden irgendwie mitgeteilt haben mußte. Entsprechend war der Ton ihrer Fragen, skeptisch nämlich, abwartend, vielleicht sogar attackierend. Ich wollte schreiben, versuchte ich mich vor mir zu beruhigen, mußte ich aber deshalb dusselige Fragen beantworten und Menschen Rede und Antwort stehen, die von ihren Maschinen und Fließbändern hierher delegiert worden waren und nicht wußten, was Literatur heißt? Schriftsteller sollten nicht in der Öffentlichkeit herumspringen, dachte ich, sie sollten nicht für alles und jedes Verantwortung übernehmen müssen, obwohl genau das von ihnen permanent verlangt wurde, sie sollten Ratgeber sein und in schwierigen Situationen helfen und geäußerte Probleme wichtig finden, in allererster Linie sollten sie schreiben, schreiben, schreiben und sonst nichts, dachte ich, während ich die Toilette betrat. Ich lasse mir gefallen, daß ich in einem Betrieb wie diesem mit Menschen rede, mir alles Mögliche schildern lasse, was in ihnen vorgeht und was sie beschäftigt, aber sie beim Schreiben anleiten und schließlich ihr Geschriebenes auf Fehler durchsehen, auf grammatische, gar ästhetische, das geht zu weit. Ich habe das den Genossen gesagt, ohne eine Blatt vor den Mund zu nehmen habe ich ihnen das im Schriftstellerheim gesagt, und auch bei den Treffen der Bezirksleitung, sie wollten und konnten das nicht verstehen und blieben stur, sagten permanent Aber, aber, aber die großen Aufgaben, vor denen das Land stehe, verlangten diese Maßnahmen, Punkt. Es ändert sich nichts, sagte ich mir, im Politbüro hat einer eine Idee und verordnet ihre Durchsetzung auf Biegen und Brechen.
Eine Ewigkeit standen wir im Flur meiner Wohnung, sahen uns an, fremd, ablehnend und forschend zugleich, irgend etwas war noch nicht ausgesprochen, doch es blieb dabei, wir redeten nicht. Dann knöpfte sich Karberg die Jacke zu, machte einen ungeschickten Versuch, dem Gespräch eine harmlose Wendung zu geben, eine Unverbindlichkeit, wie sie noch an der Bar zwischen uns geherrscht hatte, was ihm allerdings mißlang. Ich sagte nichts, er sagte nichts, und nach einer Weile drehte sich Karberg auf dem Absatz um und ging langsam, ohne sich umzuwenden, zur Tür, er ergriff die Klinke, zog die Tür auf, war da noch Gelegenheit, etwas zu sagen? Ich weiß es nicht. Er verschwand im Treppenhaus, und bei mir löste sich eine Spannung, langsam nahm sie ab, mir wurde schwindlig auf den Beinen, ich mußte mich setzen. Und wieder Axels Bild, ich vermißte ihn, eine unglaubliche Sehnsucht ergriff mich plötzlich, sehr stark, sehr fordernd, wo bleibst du, Geliebter, wo bist du jetzt? Warum streiten wir denn, warum nur, wir?
Ich hob den Telephonhörer ab, wählte Axels Nummer, wählte noch einmal, nichts. Ich lief in der Wohnung auf und ab und dachte schon nicht mehr an Karberg, ich nahm eine Zigarette, rauchte und wählte wieder. Leere machte sich in mir breit, eine Leere, eine Verzweiflung, sinnlos das. Ich hatte angenommen, Axel werde am Abend zurück sein, er werde sich beruhigt haben, und wir, wir schließen uns dann, so wie bisher immer, in die Arme. Es war nach Drei, wo steckt er? Ich räumte in der Wohnung herum, legte einen Stapel Bücher nach rechts und den Stapel von dort nach links, ich nahm noch einen Wodka, und noch einen und noch eine Zigarette, aber die Wohnung blieb leer, still, kein Axel, keine Umarmung, nichts. Plötzlich ging das Telefon, ich war elektrisiert, ich dachte, Gottseidank! das ist er! und sprang auf, griff nach dem Hörer, sagte Na, endlich! Doch es war Karberg, der sich entschuldigen wollte. Auf dem Weg in seine Wohnung hatte er den Wagen an einem Telefonhäuschen angehalten. Es tut mir leid, gab er sich zerknirscht, mit ihm sei etwas durchgegangen, es war miserabel, wie er sich verhalten hat, mies. Ich hörte seine Sätze, hörte, was er sagte und dachte an Axel, ich reagierte aber nicht, sondern legte irgendwann auf, mitten in einem seiner unterwürfigen Sätze. Der Anruf hatte die Wohnung noch größer erscheinen lassen, trister, ich fühlte mich unendlich allein, unbeaufsichtigt in dieser Leere. Ich nahm noch ein Glas und setzte mich an den Schreibtisch. Ein Blatt des Manuskripts, an dem ich gerade arbeitete, war noch in der Maschine, ich las, was zu lesen war, kam aber nicht in den Text hinein. Offenbar war die Rede von einer Architektin, einer jungen, die gerade die Akademie verlassen hatte, und die mit einem Baustellenleiter disputierte, sie mochte den älteren Mann, umgekehrt gab es auch Gefühle von seiner Seite, was beide jedoch trennte, waren ihre Vorstellungen von Planung, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Ihr Gespräch war, sagte mir der Text, den ich überlas, an einem entscheidenden Punkt, sollte sie nachgeben oder er? Oder sollte etwas Gemeinsames gefunden werden, als Grundlage gewissermaßen, auf der sie weiter arbeiten konnten. Und plötzlich, warum auch immer, fielen mir die Kollegen ein, die mitmachen und die um die wenigen Frauen im Verband scharwenzeln, ihnen schöne Augen machen und riskante Angebote, auf den öffentlichen Versammlungen aber die Klappe halten, kein Wort herausbringen und den Funktionären für ihre idiotischen Reden applaudieren. Wie soll da etwas entstehen, das mehr ist als Duckmäuserliteratur? Im Grunde hatte ich das alles satt. Wären da nicht die Versprechen für die Menschen, die klare Linie des Landes gegen den barbarischen Westen, der menschenfeindlich ist und zynisch. An den Reaktionen auf meine Lesung im Siegmundshof war mir klar geworden, wo die Menschen dort stehen, ohne Perspektive, ohne Ziel, nur Konsum und Verbrechen. Wohin also? Hier ist mein Bleiben nicht länger, könnte es jemals drüben sein? Allerdings kann ich mit den Funktionären umgehen, wenn sie auch nach Kriterien urteilen und leben, die nicht nachvollziehbar sind, wenn sie kürzen oder gar nicht erst drucken wegen angeblichen Papiermangels. Spießige Sätze, die sie tagsüber am Telefon oder im Gespräch in ihren Büros verlauten lassen, während sie einem nachts in den Bars und Klubs wie Karberg Süßes in die Ohren sagen, einen begrapschen, einem Küsse aufzwingen und ihre Körper beim Tanzen andrücken, so daß ihre Männlichkeit deutlich zu spüren ist. Ach, Karberg! Er hängt der Idee an, der dieser Staat anhängt, er zweifelt nicht, ist linientreu und einer, der auch, wenn er drüben liest, nicht schwankt. Hatte ich eine Linie, als ich zu Lesungen drüben war oder dort einen Arzt aufsuchen mußte? Und auch, als sich der geliebte Bruder in den Westen abgeseilt hatte, und ich, obwohl ich ihn geliebt habe, seinen Schritt verurteilt habe. Immer wieder dieses Hin und Her der Funktionäre und Lektoren, die anordnen und unsere Sätze durch schwachsinnige ersetzten, all das habe ich hingenommen, ich habe, um der großen Sache willen, immer neue Anläufe gemacht, und das heißt: umgeschrieben, ergänzt, abgeschwächt oder ganz fallen gelassen, weil es der Zensur nicht gefiel. Schwierige Unterredung waren das mit den Karbergs der Republik, sehr schwierige.