Bleib

Lange hatten die blutschwarz ver­kleb­ten Scharniere der Zel­len­tür wider­stan­­­­­den, wie geronnene Zeit. Er hatte sich in den en­gen Spalt zwän­gen, sich mit der Schul­ter, die seitdem schmerzt, ge­gen die Tür wer­fen müs­sen, im­­mer wieder mit aller Kraft, bis sie aufstöh­­nend nachgegeben hatte. Wie lange das her ist, Mi­nu­­ten, Stun­­den? Er hat kein Gefühl mehr für Zeit. Und jetzt die Stim­me! Er sucht an den Wän­den und ta­ste­t die Mau­er­ris­se ab. Im Luft­zug vom Fen­ster her ge­hen blei­che Spinn­we­ben auf und nie­der, als atme et­was in lan­gem In­ter­vall. Wo spricht sie? Aus dem grob ge­fu­g­ten Backstein, aus den Wund­­malen, die der ab­geblätterte Putz hinter­ließ? Ver­­streut wie zer­­­schellte Qual­­len bedecken die Plac­ken den Boden, selbst un­­ter dem ro­stigen Bett­­­ge­rip­pe, das in den Raum ragt wie ein Ding aus an­de­rer Zeit. Lächerlich, denkt Tul­mer, so ohne Ma­­tra­t­ze. Hoch­klap­pen mußten wir die Prit­schen am Ta­ge. Sie ha­ben das durch die Spio­ne kon­trolliert.

Grauer Tag ist draußen und düsterer Himmel. Es wird Regen geben. Er kann die Schwüle schmeck­en, die auf der öden Land­schaft liegt, kein Grün, kei­ne Men­schen, nichts als weg­ge­wor­fene Na­tur. Und un­ten im Hof die Re­gen­lachen, die nach den zie­­hen­den Wol­­ken lec­k­­en wie ge­fräßige Spiegel. Die Wol­ken, ja, die Wolken, sagt Tul­­­mer und sinnt dem Wor­t nach. Die Wol­­ken und das Fen­ster hier! Wieder ist ihm, als hö­re er das Stöh­nen der ro­sti­gen Zellentür, das sich gel­­lend auf­ge­­­bäumt hatte wie­ ein To­des­schrei. Und nie­mand, der mich gehin­dert hatte, sie zu öff­nen.

Lange hatte er nach ihr gesucht. Etage um Eta­ge war er im Trep­­penhaus hochgestie­gen, und jedes Mal, wenn er auf einen der schmalen Gänge vor den Zel­len­ ge­ra­ten war, hatte er in der Stille gestanden. Schritte müß­ten doch zu hören sein und Ge­räu­­sche un­ter­halb des Maschen­drahts, der zwi­schen den of­fe­nen Stock­­werken hängt wie ei­ne von Staub und Dreck auf­ge­schwol­lene Rie­­senr­eu­­­­se. Die Schließer hatte er nicht entdecken kön­nen, kein Laut war zu hö­ren gewesen, nichts, weder das Ras­­seln der Schlüs­­­sel­bünde noch das metal­li­sche Schep­­pern der Schlös­ser beim Aufschluß, auch keine Tür, die schlägt. Nir­gends Befehle, nur Stille, schwer und laut. Hatten sie nicht vol­ler Angst, wenn sie uns ein­schlos­sen, die oberen Gän­ge be­ob­­ach­­tet? Brüllten sie uns nicht in die Zel­len, wenn wir über den Geländern lehn­ten und run­ter­sahen auf sie?

Nicht mal Schemen oder Gespenster, denkt Tulmer. Er sucht nach An­halts­­punkten. Eilten sie nicht voller Haß durch den Bau? Ihre Uni­for­men ro­chen nach Leben, nach dem Leben drau­ßen, außer­halb der Mauern… Er will sich er­in­nern, er will die Lee­re aus­fül­len, die er fühlt; er sieht sich um, geht un­schlüs­sig ein paar Schritte. Kaum läßt sich der Staub auf­wir­beln, der in dic­ken Schichten den Bo­den bedeckt. Wuchernd schiebt er sich vor und frißt sich durch den Bau wie ein Schwamm, denkt Tulmer, der alles auf­saugt und der Zeit entreißt. Die Zeit? Als sei nichts ge­we­sen. Wer weiß das noch, wer glaubte mir? Und ich? War ich denn je­mals hier? Die Bil­der, die Geräusche, das Zäh­­len der Tage, nichts stimmt überein, nichts ent­­steht, wenn ich die Wände berühre, nichts kommt zurück. Wenigstens das Leben hier war eindeu­tig, und ge­­ord­­net der Haß, die Sehn­sucht, die zwei­ge­teil­te Welt. Tulmer sieht sich um. Der Bau nimmt al­les, er löscht die Zeit, die Mo­nate und Jahre in der Zel­le … Müßte ich nicht tief graben? Die Wän­de ein­­reißen, den Boden umpflügen bis hinü­ber zum Sta­cheldraht? Bis zum Sta­cheldraht! Er lacht voller Ver­achtung. Schlaff hängen seine En­den von den schief ste­­hen­­den Pfeilerstümpfen. Und das Frü­­­he­re wie­­­­­derent­decken, murmelt er, wie­­­der wahr­­neh­men wie da­mals! Hier war es doch … es muß hier gewesen sein! Aber nie­mand, der die Tür schließt, kein Schlüs­sel, der sich im Schloß dreht, kein Befehl auf der ab­ge­tre­­te­nen Schwel­­le zum Gang, nicht mal Schrit­te … Wa­rum schweigt der Bau? Er greift wieder nach dem Git­ter am Fen­ster. Das muß die Zelle sein! Meine Zel­le, hier war es  …

“Ja, doch, … sie ist es.“

Wieder die Stimme, wieder wie ein Hieb.

“Du bist also zurückgekehrt?”

Er duckt sich instinktiv, doch nichts geschieht. Und zwingt sich, zu den Wolken zu se­hen. Wie oft habe ich auf die Fel­der ge­sehen, den Schnee, die Bauern beim Sähen, das Korn? Schon da­mals weit und breit kein Haus, keine Stadt, schon da­mals alles zer­drückt, zerquetscht von die­sem tie­fen Himmel über dem Land. Fest um­faßt er die Stäbe. Er lehnt, als suche er Schutz, den Kopf an die Mau­er un­­ter­halb des Fen­sters. Mo­der­ge­­ruch ent­­ström­t ihr, kühl, seltsam kon­kret.

“Warum … warum bist du zurückgekehrt?”

Sie ist im Raum, im Gemäuer, in den Spinn­we­­­ben, über­all. Und der Bau ihr Reso­nanz­körper, ein großes, stei­nernes Ding, das tönt.

“Wer bist du?” fragt Tulmer, ohne sich zu rühren. Die Worte kom­men lauter, als er will, und er­schrec­ken ihn. Er hält sich noch immer an der mo­dernden Wand. Nicht umdre­hen, nur nicht dieses Etwas an­se­hen, das spricht und klingt wie ei­ne ver­härmte Frau.

“Es ist keine Gefahr”, sagt die Stimme sanft. “Du wirst mich nicht sehen!”

Keine Gefahr, hallt es in ihm nach. Langsam lo­c­kert er den Griff um die rostigen Stäbe, er öff­net die Au­gen und hält, während er sich umdreht, die Hän­de hoch wie einer, der sich ergibt. Wieder sucht er den Raum ab, die Zellendec­ke, die zerkratzten Wän­de, das zer­brochene Fenster, die halb­offene Tür. Nichts hat sich in der Zelle ver­ändert, seitdem er sie be­tre­ten hat, alles liegt unb­e­rührt unter Staub und Dreck. Nur das langsame Be­ben der Spinn­­­weben im Luft­zug ist wirklich und der Moder der Mau­ern … 

“Ich bin überall …  ich war überall.”

“Und jetzt?” hört er sich fragen. “Wo bist du jetzt ?”

Er geht zur Tür und stemmt sie weiter auf. Ir­gend­wo im Bau fliegt ein Taube auf und flattert ver­äng­stigt zu der gläsernen Kup­­pel oberhalb der Zel­len. Tageslicht fällt durch die ge­spen­stisch offen ste­hen­den Zel­len­türen und zeichnet scharfe Recht­ecke auf dem Boden. Wie rostende Rü­stun­gen lehnen einige Tü­­­ren an den Wänden, lä­cher­lich in ih­rer mas­siven Stär­ke.

“Wer bist du?”

“Ich gehörte zu ihnen …”

Ist da ein wehmütiger Ton, ein verhaltenes Seufzen? Nein, nein, das ist nicht in mir, ich rede doch nicht! Ir­gend­wo muß sie sein … Mit der Hand über die Ei­sen­ge­län­der streichend, läuft er an den Zel­­­len ent­­lang, bis er das Ende des Ganges er­reicht.

“Geh nicht!”

“Wo bist du?”

Lacht die Stimme, wundert sie sich?

“Na, wo? In deinem Kopf … wo sonst?”

Tulmer geht ein paar Schritte.

“Unmöglich! Du sprichst doch irgendwo …”

“Stimmt”, macht die Stimme gelangweilt. “Ist auch nur die hal­be Wahrheit …“

Tulmer bleibt stehen.

„Ich wa­­r immer da“, sagt die Stimme. „Immer, im­mer … auch in dir! Weißt du nicht mehr?“

„In mir?“

„Klar“, sagt die Stimme. „In dir, in allen … Wenn ihr von Din­gen spracht, die von oben kamen, war ich da, von den Dingen von ganz oben, hast du das ver­ges­sen?“

“Hier, im Bau”, fragt Tulmer.

“Vorher schon.”

Tulmer sucht nach Laut­spre­­­­chern, nach Kabeln, er denkt an ver­­­­borgene Ma­schi­nen, an Bän­der, die sich ir­­gendwo drehen, lang­sam, prä­zi­se, kalt. Jemand muß sie bedienen, denkt er, ich bin nicht al­lein! Je­mand, der mich kennt …

Er schlägt auf das Ge­länder, daß es wider­hallt von den Wän­den bis in die ent­le­ge­nen, über­­­all ab­zwei­gen­den Gänge. Wie­der schlägt er und noch ein­mal und hört auf das Echo, das dem ersten gleicht und sich wieder bricht und schließlich leiser wird wie je­des Mal. Klang der Terror der Schlie­ßer nicht so, wenn sie uns in die Zellen trie­­ben? Der Ein­schluß zur Nacht, die im Hel­len begann. Na­tür­lich war es so, stößt er hervor und schlägt wie­­der auf das Eisen.

“Damals hast du dich das nicht getraut,” lacht die Stimme.

“Wo bist du, zeig dich!”

Das Lachen wird lauter.

“Du warst ein verflucht braver Hund, ein Mu­ster­ge­fangener so­zusagen … keinerlei Vermerke in der Ak­te! Bist ja auch früher raus­ge­kom­men, ganze zwei Jah­­re …”

“Das weißt du?”

“Aber ja, alles weiß ich, alles, was dich betrifft …“

Die Stimme stockt, als überlege sie.

„ … jedem, der käme, könnte ich antworten.“

Und schließlich:

„Aber du bist der er­ste! Ich werde also höflich sein, sehr höf­lich will ich sein, entschuldige bitte! Ich will dich nicht ver­trei­ben… ich bin so froh …”

Und leiser:

“Einsam ist es hier ohne Gespräche, kalt, sehr kalt, ver­stehst du, ohne die Fra­gen, die jeder stel­len müß­te …”

“Es amüsiert dich?”

“Dir die Wahrheit zu sagen? Kaum, obwohl … nun ja, ein biß­chen vielleicht schon… Aber sage ich Dir Neues? Alles, was ich sage, weißt du bereits … Bis­her wolltest du da­von nichts wis­­sen.”

Tulmer tritt gegen eine Tür, die langsam nach vorn kippt und mit lautem Krachen auf das Ge­­län­der schlägt.

“Bist du ein Mensch, … fühlst du wie wir?”

“Wie ein Mensch?” fragt die Stimme und dehnt die Worte.

“Wie ein Mensch? Nein, ich glaube nicht, aber wie ihr fühlt, das verstehe ich…  Ich beneide euch.“

Uns beneiden, denkt Tulmer.

„Ja, wirklich. Ihr wißt zu spielen.“

 Er wendet sich ab.

“So bleib doch! Geh nicht… Wir beide … wir beide, wir schaf­fen es! Keiner hat es bis­her ver­­­sucht … Bleib!”

Sind da nicht Schritte? Tulmer hält inne.

“Bleib”, wiederholt die Stimme. “Bitte!”

Schritte irgendwo im Bau, kein Zweifel. Sie werden deut­li­cher, kom­­men näher. Jemand stei­­gt ir­gendwo die Trep­­pe her­ab. Und jetzt schwach, noch kaum hörbar, ei­ne Män­ner­stim­­me … Stößt sie nicht Be­fehle aus? Wie frü­her, denkt Tulmer. Wie frü­her. Ihm wird heiß, ihm ist, als halle ein Echo auf ihn zu, ein Echo, das durch die Jahre rollt wie damals im Bau; wenn die Stim­me sprach, hallte es von den Mauern, hallte und brach sich zersplit­ternd Bahn. Und jetzt tatsächlich die Na­men, sie kom­men tro­cken, tastend, hoch her­­­aus­ge­stoßen und fremd, wie ein zö­gern­der Chor vor der engen Wand.

Auf Zehen­spit­zen und je­des Ge­räusch ver­­­mei­­­dend, geht Tul­mer zur Trep­pe, er sieht, wie sei­ne Hand nach dem rostigen Ge­län­der greift, wie er lang­­sam und fast oh­ne den Bo­den zu be­rüh­ren hin­­un­­ter­­steigt.