… während sie selbst unsichtbar blieb. Eine Art Gefühl vielleicht, das die Stadt mit großer Entschlossenheit verließ, aber warum, oder eine Verärgerung, eine tiefe Verletzung? Keiner von uns hatte auch nur einen Schimmer, was das zu bedeuten hatte. Wir standen an den Fenstern und starrten in die Senke, dorthin, wo die Stadt lag, wir sahen über die Suppenwürzfabrik hinweg, deren Fertigungsgebäude uns die Sicht auf die verwinkelten Häuser der Altstadt nahm, ihre zahlreichen Kirchtürme aber noch erkennen ließ.
Die merkwürdige Kraft ließ nicht nach, sondern setzte, kaum daß sie sich beruhigt hatte, erneut an, und wir an den Fenstern, die wir geschlossen hielten wegen des beißenden Geruchs aus der Würzfabrik, starrten wie gesagt und begriffen nicht. Sie schob Papier und Müll vor sich her, wirbelte auf, was sich ihr in den Weg stellte, Fahrräder und Motorroller, faßte sogar nach Menschen, die sich verzweifelt an Laternen und Bäume klammerten und Mühe hatten, sich zu behaupten. Selbst die Straßenbahn war auf dem Weg zu ihrer Endstation vor unseren Gebäuden stehengeblieben und schaukelte nun sanft auf dem Gleisbett hin und her. Bei allem zeigten sich nur die wirbelnden Gegenstände, nicht die Kraft selbst, die allenfalls zu erahnen war, und die um so mehr auf sich aufmerksam machte, als ihrem unerklärlichen Treiben ein ohrenbetäubender Lärm beigegeben war, der mal schwächer war, dann aber, und besonders dann, wenn die Kraft erstarkte und gewissermaßen zu neuem Sprung ansetzte, wieder unbeschreiblich laut, ein Zischen, Rauschen und Grollen war das, ein donnerndes, mit zahllosen tiefen Bässen unterfüttertes Rollen, das, sich steigernd, jedes Mal auf einen finalen Knall zulief, als werde eine Schallmauer durchbrochen von einem Jet.
Zuerst die Blicke, die sich alle zuwarfen, die Wörter, die sie nach dem ersten Schrecken tauschten, und die kaum zu deuten waren. Unentwegt starrten alle durch die Fenster nach draußen und suchten auf der Allee nach der Kraft, die nicht aufhörte zu rollen, aber seltsamerweise abrupt vor den Gebäuden stoppte, in denen wir uns verschanzt hatten, als sei da ein unsichtbares Hindernis, eine unüberwindbare Grenze. Aber womöglich war das nur unserer Perspektive geschuldet? Ob sie ihr Treiben tatsächlich hinter den Malergebäuden fortsetzte, konnten wir nicht sehen, denn dort stieg unmittelbar der bewaldete Berg an, er ging in den weiten Steigerwald über und ließ nichts mehr erkennen.
Die Angestellten, die im Malersaal arbeiteten, hatten ihre Quasten und Pinsel fallengelassen, sie waren von den Leitern gestiegen, wobei sich mancher Zeit genommen hatte, die Farbeimer neben sich abzudecken, als ließe sich in Ruhe abwarten, wie sich die Sache entwickeln würde. Immer wieder jedoch stürzten sie an die Fenster, um die Kraft zu sehen, die doch nicht zu sehen war. Andere versuchten zu telefonieren, dritte schauten verängstigt in Richtung des Waldes oberhalb unseres Hauses, und als dann die riesigen Leinwände, an denen sie eben noch gearbeitet hatten, bedrohlich schwankten, ja kippten und schließlich mit ohrenbetäubendem Knall zu Boden gingen, war die Hilflosigkeit perfekt.
Vogler, der noch vor dem Auftreten der Kraft und dem Lärm, den sie verursachte, verächtlich auf mein Blatt geblickt hatte, das einen Straßenkreuzer zeigte, ein amerikanisches Cabrio mit langen Flossen am Heck, stand auch am Fenster. Der große Mann mit rabenschwarzem Haar, einem dünnen Lippenbart von gleicher Farbe und langen Koteletten, hatte seinen Zorn angesichts der mit Bleistift schnell hingeworfenen und mit Aquarellfarben hie und da gehöhten Skizze vergessen und seine Suche nach geeigneten Argumenten eingestellt. Daß man so etwas hier, im Lande der Arbeiter und Bauern nicht zu Papier bringt, war noch von ihm zu hören gewesen, er war der Leiter der Malerwerkstatt. Dekadent sei das, nicht unserem Lebensgefühl entsprechend, derartige Karossen brauche unsere Gesellschaft nicht, hatte er, der für das Ausbildungswesen zuständig war, verlauten lassen. Jetzt aber stand er, wie die anderen, unter dem Eindruck der Kraft, die ihr Wüten fortsetzte. Er sah abwechselnd zum Fenster, dann zu den großen Mitteltischen, den Staffeleien und grundierten Malflächen rechts und links, und wieder zum Fenster. Offenbar wußte er sich das Phänomen ebenso wenig zu erklären wie die anderen in Raum, und so wurde er in meinen Augen immer kleiner, ja, zu einer Figur, die kaum noch zu respektieren war. Noch eben hatte ich in Erwartung einer der üblichen Vorhaltungen vor ihm gestanden und bemerkt, wie er, die Hände in den Taschen seines Malerkittels, mich, den Lehrling strafend angesehen hatte, im Grunde aber hatte er da wohl schon durch mich hindurchgesehen und nichts mehr begriffen.
Eigentlich hatte Vogler, der das Lehrlingswesen aus Gehorsam den Genossen gegenüber übernommen hatte, andere Dinge im Kopf. Die anderen Dinge, das waren neben der Malerei, die er geliebt hatte und aufgeben mußte, die Plakate und Losungsbänder, auch die Porträts der Staatsmänner in allen möglichen Formaten, Riesenabbildungen der Funktionäre also, die zu den Demonstrationen am ersten Mai oder siebentem Oktober oder anderen Anlässen in Auftrag gegeben wurden. Die Genossen, die Herren, wie hier jeder sagte, wurden dann im großen Malersaal gefertigt. Über einen komplizierten Mechanismus projizierte man die Konterfeis aus großer Entfernung auf die entsprechenden Leinwände und zeichnete sie dort, um der späteren Farbe ein Gerüst zu geben, mit flüchtigen Kohlestrichen nach. Auf hohen Leitern trugen die Maler anschließend, die Farbeimer rechts und links, die Farben von hell nach dunkel gehend auf.
Die Kraft hatte Strecker und Montag inzwischen vollkommen in Bann gezogen. War sie ihnen unheimlich? Das Ungeheuerliche, das sich ohne Unterlaß auf der Allee ereignete und selbst nach größeren Pausen wiederkehrte, und zwar so unvermindert laut wie jedesmal zuvor, machte sie ratlos. Was ist das nur, murmelte Vogler verzweifelt, dem sie auch Angst zumachen schien. Längst hatte er meine Zeichnung vergessen, er starrte wieder durch das Fenster und schien nicht ansprechbar. Irgend etwas hatte sich seiner bemächtigt und arbeitete in ihm. War es die Kraft oder das, was sie bewirkte? In diesen Momenten ging das Telefon und Vogler nahm ab. Er sagte während des Gesprächs so gut wie kein Wort, wurde blasser und blasser, schlug sogar, als der Anrufer offenbar auflegte, die Hacken zusammen. Anschließend stierte er sekundenlang abwesend vor sich hin und gab schließlich Befehle. Alle Türen schließen, die Fenster auch, wir bleiben hier bis auf weiteres … In der Stadt wissen sie nichts, sie wissen nichts und können sich das nicht erklären, vollkommen ratlos sind sie, die Genossen in der Stadt, ratlos …
Nach wie vor war der Lärm zu hören, er drang durch die geschlossenen Fenster so laut wie lange nicht. Außerdem war es plötzlich dunkel geworden über der Stadt, schwarz fast, und alle rätselten, ob das den Wolken zu verdanken war, die von einem Augenblick zum nächsten hätten aufgezogen sein müssen, oder aber der eigentümlichen Kraft. Diese Lichtlosigkeit hing, da war ich sicher, mit ihr zusammen, mit ihr und nichts anderem
Wir verrammelten die Türen und richteten uns auf ein längeres Bleiben ein. Ich hockte mich in eine Ecke und wartete ab. Im Haus war es jetzt still, der Rauch aus den Schornsteinen der gegenüberliegenden Würzfabrik war verschwunden, sie hatten offenbar die Produktion eingestellt, und die Straßen vor den Fenstern wirkten leer, leergefegt, kein Mensch in Sicht, nur Gegenstände, die gelegentlich durch die Luft wirbelten. Die Dunkelheit aber hielt ebenso an wie die Geräusche, die zunahmen und schließlich jedes Mal endeten mit einem Knall.
Von meinem Stuhl aus beobachtete ich Montag, der, zusammengefallen auf seinem Hocker, wirr durch den Raum sah und, ich traute meinen Augen kaum, sich heimlich bekreuzigte. Danach war ein Hm zu hören, ein Ach, dann wieder sein Blick, und schließlich seine Stimme laut zu Vogler, er möge doch anrufen, man wisse ja gar nichts, man könne doch nicht ewig hier sitzen. Der schmale, hoch geschossene Mann wirkte klein, sein Gesicht unter den hohen Geheimratsecken faltig, wächsern, und wenn der Donner zunahm, duckte er sich noch mehr. Hatte er Angst? Anders Strecker, der nur noch lächelte. Er hatte sich vor eine Staffelei gesetzt, ein neues Blatt angeheftet und begonnen, eine Frau zu zeichnen. Mit sicherem Strich entstanden üppige Formen, lässig, ausdrucksstark, und mir war, als schlüge die Frau im nächsten Moment die Augen auf. Ganz und gar verzückt war Strecker von seinem Werk, völlig bei sich, und weder der Lärm, der in bestimmten Abständen wiederkehrte, noch die Dunkelheit, die noch immer über der Stadt, soweit man sehen konnte, vorherrschte, schienen ihn zu kümmern.
Vogler aber lief im Malersaal auf und ab, irgend etwas beschäftigte ihn, er murmelte vor sich hin, ging zum Telefon, nahm den Hörer ab, legte ihn wieder auf, er achtete nicht auf die beiden Kollegen, und obwohl er lange auf Streckers Blatt gestarrt hatte, war ihm kein Kommentar über die Lippen gekommen, nicht mal ein zotiger. Die aufreizenden Formen der gezeichneten Frau schienen ihn nicht zu beeindrucken. Aber mein Straßenkreuzer, dachte ich. Offenbar wartete Vogler auf einen Anruf. Einen von den Genossen in der Stadt vielleicht, aber Genaues wußte natürlich keiner. Als Parteisekretär des Betriebs war er auf die Direktiven der Genossen in der Stadt angewiesen, aber was geschah hier? Ließen sie ihn im Stich oder wußten sie tatsächlich nichts?
Während Strecker an seiner Traumfrau malte und sich dabei, als fühle er sich frei und an nichts gebunden, von nichts stören ließ, riß Montag an seinen Kleidern. Er gab kurze, unverständliche Laute von sich, zog sich die dünne, schmierige Krawatte vom Kragen und begann, sich des beklecksten Kittels zu entledigen. Sodann knöpfte er das Hemd auf und zog es sich über die Brust. Der lange Mensch saß jetzt halbnackt auf seinem Hocker, und schon beugte er sich zu seinen Schuhen hinunter, als Vogler ihn anherrschte und Einhalt gebot. Mensch, Montag, reiß dich zusammen. Wir wissen bald mehr!
Doch Montag reagierte nicht oder wollte nicht reagieren. Unbeirrt zog er an den Schnürsenkeln seiner Schuhe, als folge er einem seltsamen Drang nach Entblößung. In der anderen Ecke des großen Raums war Strecker nach wie vor mit seiner Zeichnung beschäftigt. Nichts hören, nichts sehen, nur malen, war offenbar sein Motto. Inzwischen hatte er begonnen, Farben aufzutragen, die der Skizze eine beeindruckende Plastizität verliehen und die Formen der sitzenden Nackten überaus sinnlich hervorhoben. Strecker malte wie besessen.
Zwischen den beiden und mir in der Ecke Vogler, auf und abgehend, fahrig und ideenlos. Er nahm eine Zigarette, die er am Filter anzündete und angeekelt in den Ascher warf, fuhr sich durch die Haare und griff wieder zum Telefon. Nichts, sagte er und legte auf. Die wissen nichts, natürlich gar nichts.
Unterdessen hatte die Kraft zugenommen, das heißt, die Intervalle, mit denen sie sich bemerkbar machte, und die jedesmal mit einem Knall endeten, waren kürzer geworden, die Dunkelheit einer kompletten Schwärze gewichen, in der nichts mehr zu erkennen war, allenfalls nebelhaft die Laternen in allernächster Nähe. Offenbar waren wir abgeschnitten, abgeschnitten vom Raum, der zwischen uns und der Stadt im Tal liegt, auch von der Stadt selbst, die offensichtlich, wollte man Vogler glauben, sämtliche Zeichen eingestellt hatte und nichts mehr verlauten ließ. Was beschäftigte die Genossen in der Zentrale? Hatten sie Erkenntnisse, wußten sie etwas über die Kraft, über ihre Herkunft, die Ziele? Und wenn ja, was? Geschah dies alles am Ende mit ihrem Einverständnis? Was aber hätten sie, falls dem so war, damit erreichen wollen?
Montag hatte inzwischen seine Schuhe ausgezogen und akkurat vor sich hingestellt. Jetzt schien er seine löchrigen Socken zu betrachten, und wenn er gelegentlich aufsah und in den Raum blickte, dann war das eher ein zielloses Starren, das uns und die Gegenstände streifte, ohne sie wirklich zu erfassen. Was ging in ihm vor? Wieder bekreuzigte er sich, mehrmals sogar, was ihm Trost zu spenden schien und eine seltsame Form von Ruhe, die er offenbar suchte. Auch hatten wir den Eindruck, als höre er etwas. Strecker dagegen hatte seine Dame bald fertig. Eigenartig fein lächelnd, setzte er letzte Striche, trat zurück, schaute lange, wobei er den Kopf langsam von links nach rechts drehte und wieder zurück, ging wieder zur Staffelei, um mit dem Pinsel etwas zu korrigieren, und entfernte sich wieder. Sodann tunkte er den Pinsel in einen mit Verdünner gefüllten Behälter und sah sich im Raum um. Schließlich nahm er das große Bild von der Staffelei, er hielt es nun mit beiden Händen und begann sich langsam zu drehen. Er tanzt, dachte ich, er tanzt mit der Frau, die er soeben erschaffen hat, er tanzt.
Ach, Scheiße, ließ sich Vogler vernehmen, der aus einem Nebenraum zurückgekommen war, wo er, wie ich sehen konnte, lange am pechschwarzen Fenster gestanden hatte und nachgedacht zu haben schien. Er kam direkt auf mich zu, baute sich vor mir auf, sah mich an, sah zum Fenster, seine Lippen wurden schmal. Das mit dem Auto, sagte er schließlich leise und stockend, sei nicht so gemeint gewesen. Ich meine den Straßenkreuzer von dir, der war gar nicht so schlecht, ich meine, in verkehrte Hände sollte er nicht geraten …
Und wieder ein Knall. Diesmal erzitterte der Boden, als hätte ein Riese an die Grundfesten des alten Hauses getippt und gezeigt, wozu er fähig wäre im Falle des Falles. Wir waren still im Raum, und selbst Montag, der perfekte Schriftenmaler, hielt mit seiner Entkleidung inne. Er drehte den Kopf zu den Fenstern, die aufgeflogen waren und nun leise hin und herschwangen. Wieder war seinen Gesichtszügen zu entnehmen, daß er etwas hörte, etwas Seltsames, das in der Luft zu liegen schien, aber unhörbar für uns war, er hob den Kopf noch höher, brummte etwas, das sich wie ein befreites Ach anhörte, und verharrte in seiner Position. Strecker indes ließ sich nicht stören. Als hätte er den Knall gar nicht vernommen, tanzte er weiter und warf der Dame auf dem Blatt Küsse zu.
Vogler hatte, nachdem der Knall verklungen war, noch zu mir geblickt, er hatte genickt, als Aufforderung gewissermaßen, ihm zuzustimmen und die Sache damit zu beenden. Er trat dann zu Montag, berührte ihn an der Schulter, streichelte ihn sogar und fiel ihm schließlich um den Hals. Weinte er? Die Stellung, in der er sich befand, wird unbequem sein, dachte ich, wenn nicht sogar anstrengend. Aber Vogler verharrte lange in dieser halb gebückten Haltung, Montag immer noch im Arm, der sich nicht rührte und nur weiter in Richtung des Fensters starrte, von wo er tatsächlich etwas vernahm.