Neue Menschen
Der Traum war mir zuhause, als ich ihn träumte, noch als Mahnung erschienen, als eine Art Auftrag, als eine Idee, die ich am Schreibtisch festhalten mußte, um sie an den Mann zubringen. Doch hier, in den Neuen Ländern, fühlte sie sich mit einem Male vage an und sinnlos, eine schwache Phantasie, ein Gebilde ohne Realitätsbezug. Und wem davon erzählen? Womöglich würde das Gremium, auf das mich der Traum gebracht hatte, vorausgesetzt, es werde jemals ins Leben gerufen, weder die Menschen ändern noch die Versuchungen beseitigen, die immer und überall existieren, wenn es um Macht geht; auszurotten waren sie nicht. Der befreundete Autor, den ich in diesen Gedanken anrief, galt mit seiner Einschätzung politischer Szenarien als unschlagbar. Mit wem willst du das machen, mit neuen Menschen, schön, aber woher nehmen? Von neuen Menschen hatte ich schon Anna im Café sprechen hören, ein Schlagwort, wie mir jetzt schien, ein Modewort, das im Umlauf war, nicht mehr. Und wer, bitte schön, sitzt in diesen Gremien, wer leitet sie, wer fällt die Entscheidungen, wer stellt das reinigende Papier aus?
Da der Schlaf nicht kommen wollte, trieb es mich in die Stadt, ich begegnete vereinzelten Passanten, die noch unterwegs waren oder auf die letzte Tram warteten. Das Treffen mit Anna und Wolf ging mir nicht aus dem Kopf, allerdings nahmen auch die Zweifel an dem Traum zu, als ich die schlafenden Gassen durchstreifte. Eine idealistische Spinnerei, sagte ich mir und schüttelte den Kopf. Ich ging die Marktstraße entlang, dem Fischmarkt zu und kam schließlich am neugotischen Rathaus vorbei, vor dessen hohen Fenstern sich neue Fahnen bewegten. Und während ich in Gedanken der Straße in Richtung Anger folgte, hörte ich plötzlich Geräusche, ungewöhnliche Geräusche, die in der engen Straße rhythmisch widerhallten, präzise, stakkatohaft. Bald war mir klar, daß es Absätze waren, hohe Absätze, die klackten, kein Zweifel, und sehr deutlich zwischen den eng stehenden Häusern zu hören, und dann sah ich sie, die Frau, sie ging in vierzig, fünfzig Meter Entfernung vor mir her. Das blonde, kräftige Haar hochgebunden, die schlanke Gestalt im grauen Kostüm, all das kam mir bekannt vor. Augenblicke später wußte ich, daß es Anna war, Anna, die ich doch am Tage erst kennengelernt hatte. Ich versuchte sie aufzuholen, beschleunigte meine Schritte, doch vergebens. Anna lief ohne sich umzusehen, stramm, in großer Eile und verschwand von einer Sekunde zur nächsten in einem der letzten Häuser vor der Brücke am Fluß. Als ich dort angelangt war, war sie wie vom Erdboden verschwunden. Ich drehte mich auf dem schmalen Bürgersteig um die eigene Achse und war doch allein, keine Anna, überhaupt kein Mensch weit und breit.
Die Tür des Hauses schien verschlossen, Klingelschilder fehlten. Ich drückte, einem plötzlichen Impuls folgend, versuchsweise gegen die Tür, die zu meiner Verblüffung nachgab und sich öffnen ließ. Dahinter, in einen Innenhof führend, ein gepflasterter Durchgang. Ich tastete mich vorwärts, bemerkte noch, wie sich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Die Mitte des Hofs überkronte ein mächtiger Baum, schließlich ein zweiter Hof unter einem Quergebäude, das die beiden Seitenflügel offenbar verband. Und überall schwarze Häuserfronten, blinde Fenster, die mich anstarrten, doch dann fiel mir eine Tür auf, die sich öffnen ließ wie die erste, wobei sie in den Scharnieren heftig quietschte, daß es mir in alle Glieder fuhr. Aber alles blieb still, und ich öffnete vollständig die Tür und fand mich einem Flur gegenüber, von dem eine Treppe abging, und auf ihr schwacher Lichtschein, der nur von unten kommen konnte, von einem Untergeschoß, einer Art Keller, einem unterirdischen Raum. Vorsichtig das wacklige Geländer ergreifend, stieg ich hinab, machte auf Zehenspitzen die Kehre der Treppe mit und stand nach den letzten Stufen in einem großen, nahezu dunklen Raum, in dem so gut wie nichts zu erkennen war. Mit der Hand fuhr ich auf gut Glück über die Wände und fand tatsächlich einen Lichtschalter. Nachdem ich ihn betätigt hatte, war mein Erstaunen groß: ich sah gleißendes, gewissermaßen offizielles Licht, das den Raum in schattenlose Helle tauchte und jeden Winkel ausleuchtete, ich sah Möbel und Konferenztische, bequeme Polster, Lampen und Monitore, und, erhöht vor der Wand am hinteren Ende des Saals, eine Art Podium mit sechs oder sieben ledernen Sesseln, geputzt alles, sauber, als sei der Raum vor Stunden noch in Benutzung gewesen oder würde es bald wieder sein.
Sofort begann ich zu spekulieren. Welche Funktion hatte das Gelaß? Was wird hier gespielt? Während ich zum Hotel zurückging, war sie wieder da, die Idee, die mir der Traum zuhause suggeriert hatte, ein klarer präziser Traum, der traumlogisch erzählte, Bild für Bild. Soweit ich das Gebilde an diesem sonnigen Morgen verstanden hatte, waren das Hinweise auf ein Tribunal, auf ein heimliches Gericht, das auf nahezu surreale Weise die Guten von den Bösen sondert und erstere mit einem Paß ehrt, einem Zertifikat, das ihnen in der neuen Welt Tür und Tor öffnet. Allerdings war der Traum an diesem Punkt nebelhaft geblieben, dunkel und ausgesprochen undeutlich. Es wird sich um einen Freibrief handeln, hatte ich gemutmaßt (und niedergeschrieben), um ein spezielles Papier, das die Antragsteller von jüngsten Verfehlungen freispricht und ihnen attestiert, im nun vereinten Staat brauchbare, sozusagen saubere Bürger zu sein.
Also Bürger ohne Fehl und Tadel, hatte ich mir im Wagen gesagt, als die Sonne hochstieg, und ich meine Heimatstadt ansteuerte, um an dem Klassentreffen teilzunehmen, zu dem ich eingeladen worden war. Die Fahrt ging zuletzt durch die Neuen Länder, durch Gegenden, die noch grau wirkten, monoton, die Wende war gerade erst geschehen.
Was aber geschähe mit jenen, hatte ich mich noch im Auto gefragt, die die Prüfungen nicht bestehen, das Papier nicht erhalten, wären das Durchgefallene, Ausgestoßene, für immer Stigmatisierte, und wie und wo würden sie, die doch auf der Straße von den Guten nicht zu unterscheiden sind, mit diesem Makel heute leben? Je blasser die Bilder wurden, desto mehr Fragen waren entstanden, bis ich schließlich vollständig erwacht war und die Flut der Anspielungen wie weggewischt. Wer würde diese Zusammenkünfte leiten, schob ich als Frage hinterher, würde ein solches Gremium öffentlich tagen oder geheim, würde es in Anbetracht der vielen, die zu prüfen sind, unter Umständen mehrere geben, vielleicht eines pro Stadt? Das Bildergespinst des Traums hatte sich ja zu vielen dieser Punkte lediglich vage oder gar nicht geäußert, mir aber eine hellsichtige Ahnung geschenkt, die alles war, nur nicht klar begründet.
Beim Frühstück im Hotel am Morgen nach der Entdeckung des Gelasses fragte der Wirt, ein kleiner, schon älterer freundlicher Mann, ob es munde. Warum er sich nicht setze, fragte ich, wir seien doch allein. Ich sei wohl nicht von hier, fragte er dezent und setzte sich tatsächlich mit seiner Tasse zu mir an den Tisch. Nein, sagte ich, und doch ja. Früher hätte ich in dieser Stadt gelebt, ich sei hier geboren und zur Schule gegangen. Aha, sagte der Wirt, und irgendwann ist es … Stimmt, bestätigte ich, irgendwann ist es nicht weitergegangen. Ich verstehe, sagte er, ähnlich war es bei mir, nur ging ich damals nicht in den Westen, sondern direkt ins Gefängnis. Tja, so war das. Einer der Gäste hatte ihn verraten und angezeigt, wenn Sie wissen, was ich meine. Danach der Prozeß, Verleumdung wurde mir zur Last gelegt, Verächtlichmachung des Staates und seiner Ordnung, und wofür? Für eine Handvoll Witze an diesem Tisch hier, an dem wir momentan sitzen, er pochte mit dem Handknöchel darauf. Das ganze Programm für ein paar harmlose Witze, ja, da staunen Sie, was …
Ich habe heut nacht, wechselte ich das Thema, einen unterirdischen Raum entdeckt, der verlassen war, unbewacht … Ach? – Im Hinterhof des letzten Hauses vor dem Fluß lag er, versteckt, unbeleuchtet, aber nagelneu alles. Die Blicke des Wirts gingen im Raum umher, er war fraglos in Gedanken, dachte nach. Davon habe ich gehört, vage allerdings, nix genaues …Kurz vorm Fluß, sagen Sie, das ist die Johannesstraße … Ja, sagte ich, wozu ist er da, was glauben Sie? – Man munkelt etwas von Seilschaften, aber Genaues, bedaure, keine Ahnung. Er stand auf, um sich neuen Kaffee zu besorgen, und räusperte sich. Offenbar sind sie wieder aktiv, selbst hier in meinem Hotel, die Freunde, die mich verhörten und einbuchteten – er zeigte mit dem Finger in Richtung Andreasberg, dem ehemaligen Sitz der Staatssicherheitsorgane –, sie sitzen an diesem Tisch, und wir trinken zusammen und aus die Maus, Schwamm drüber … Vor allem, sie fühlen sich als Sieger, als Sieger auf ganzer Linie und stimmen alte Töne an, nach drei oder vier Bieren glauben sie, ihre Zeit sei zurück und nichts geschehen, und am Ende verlassen sie wankend die Gaststätte, die netten Herrn mit den alten Liedern auf den Lippen, gelinde gesagt ist das eine ziemliche Schweinerei … Aber ohne die Gestrigen wäre hier bald Schluß, wie soll ich das sagen, das Leben geht halt weiter, einfach immer weiter, da kann ich nicht abseits stehen. Und plötzlich hatte ich die Idee, ich weiß nicht warum, ihn nach Wolf zu fragen, den er vielleicht vom Andreasberg her kannte, und beschrieb ihn so genau wie möglich. Mein Alter, ziemlich groß, grau meliertes Haar, Schnurrbart? Der Wirt kratzte sich am Kopf. Ja, so einen habe ich erlebt, ziemlich sicher sogar.
Wolf hatte mich gestern, wenige Stunden nach meiner Ankunft, als ich Schaufenster betrachtete, angerufen. Ich fragte Wolf, wer? und wollte schon auflegen, als mir dämmerte, daß es sich um Stefan Wolf handeln könnte, den Schulkameraden von einst. Wie er meine Nummer herausgefunden hatte, wollte er nicht sagen. Oder ging das im Gespräch unter? Er fragte, wo ich sei, und schlug ein Treffen in dem Café unterhalb der großen Kirche vor, das am Domplatz liege, man sitze da bequem und habe eine schöne Sicht auf die Altstadt mit ihren inzwischen restaurierten Fachwerkhäusern. Mitgebracht in das Café hatte er Anna, eine elegante Erscheinung, schlank, das blonde Haar hochgebunden, allerdings in ihrem Wesen eine Spur zu schroff, zu kühl für meinen Geschmack. Wolf dagegen wirkte gelöst, aufgeräumt und redete, als hätten wir uns vor Tagen erst gesehen, obwohl uns vier lange Jahrzehnte trennten. Mein Werdegang interessierte ihn, über meine Zeit im Westen wollte er alles wissen, während er, aber das könne ich mir ja denken, ausgeharrt hätte, sich mit dem System herumgeschlagen und angeeckt sei und Unangenehmes erlebt hätte.
Und plötzlich unterbrach ihn Anna und wies auf ihre späte Flucht hin, die sie in den letzten Monaten des Schreckensregimes unternommen hatte. Dem Druck nachgebend, will sie sich eine Fahrkarte nach Budapest gekauft und sich von dort zur Grenze durchgeschlagen haben, was, wie sie beiläufig betonte, nicht ohne Komplikationen abgegangen sei. Jetzt aber sei sie hier, schloß sie mit leichtem Lächeln, sie bereue den Schritt keinesfalls und erfreue sich vielmehr ihrer ungewohnten Freiheit. Der Satz erschien mir mechanisch, irgendwie bestellt wie eine Pflichtaussage, aber warum? Wie groß ihre Freude tatsächlich war, habe ich nie erfahren. Und du?, zog Wolf das Gespräch wieder an sich. Vor Unzeiten hätte ich ihn verlassen, er sagte tatsächlich mich verlassen, ich sei einfach gegangen, und nun bist du wieder da! Ja, erwiderte ich, nun bin ich wieder da. Und gespannt auf das Klassentreffen übermorgen und darauf, wie die anderen wohl aussehen und was sie sagen werden nach so langer Zeit? – Sie werden das Blaue vom Himmel herunter lügen, stellte Wolf wie aus der Pistole geschossen fest, als hätte er diese Bemerkung erwartet. Wie schrecklich alles gewesen sei, und welche Opfer sie hätten bringen müssen, wie klein und eng und grau die Welt gewesen sei, schrie Wolf beinahe. Und sich rühmen, das System in die Knie gezwungen zu haben, auf die Straße gegangen zu sein, als es, aber das verschweigen sie gern, nicht mehr gefährlich war, all das werden sie sagen. Wolf hatte von einer Minute zur anderen seine Haltung verändert, er war ernst geworden, und die anfängliche Freundlichkeit war einer Verbitterung gewichen, ja, einer Härte, die ich mir nicht erklären konnte. Und Stefan, warf ich ein, haben sie Unrecht, reden sie sich auf etwas heraus? Das ist es nicht, sagte er nach einer Weile, während Anna nach wie vor auf den großen Platz starrte und schwieg. Zu denen zu gehören, die auf der Straße für ein friedliches Ende eingetreten waren, das ist keine große Sache, wirklich nicht, auf das Ziel kommt es an, auf das, was man wirklich will, auf das, was nachher kommt, auf die große Vision. Von der Wiedersehensfreude, die unser Gespräch zu Anfang bestimmt hatte, war, wie ich fand, nicht viel geblieben. Ich spürte etwas Fremdes an ihm, einen Vorbehalt, etwas ließ ihn bei allem, was er sagte, zögern. Daß ich vor mehr als vierzig Jahren dem Lande den Rücken gekehrt hatte, sollte das eine Rolle spielen und ihn gegen mich einnehmen? Oder lag es an Anna, die noch immer schwieg und abwesend, wie mir schien, durch die Scheiben auf den großen Platz starrte, der zur Stunde schon recht leer war, von den Wartenden an der Haltestelle der Straßenbahn abgesehen. Ich dachte an den Traum, den ich vor der Abfahrt geträumt, an die grandiose Idee, die er mir eingegeben hatte, und an die Absicht, darüber zu sprechen, und spürte plötzlich Zweifel aufkommen am Sinn des Ganzen, eine Ernüchterung, die ich wegzudrücken versuchte. Und dann dachte ich an mein Buch, das Fakten ins Feld führen würde, die meinen Standpunkt und nicht nur meinen untermauerten, was im Himmel hatte ich, der Ossi aus dem Westen mit der Vereinigung zu schaffen? Tja, mein Lieber, sagte Wolf und riß mich, als hätte er meine Distanzierung bemerkt, aus meinen Gedanken. Er schien sich wieder in der Gewalt zu haben und war zu dem freundlichen Zeitgenossen zurückgekehrt, der er noch am Telefon gewesen war. Tja, mein Lieber, wir blicken auf viele Jahre des Schweigens zurück, unsere beiden Staaten haben sich auseinander entwickelt, und wir wohl mit ihnen. Vom anderen hatten wir keine Ahnung, jeder war in seinem Leben gefangen, nicht erreichbar für die andere Seite, jeder sprachlos in seinem Winkel und stumm, am Ende wußten wir nicht mal mehr voneinander.
Da aber protestierte Anna. Was soll das heißen, rief sie aus, jeder in seinem Winkel? Das sind schiefe Bilder, befand sie, die zu nichts führen. Gab es bei uns nur Verfolgung, nur Druck, nur Angst? Mir war danach, ein Jazu rufen, ich hielt mich aber zurück. Im Westen war das, gab ich statt dessen mit großer Vorsicht zu bedenken, die herrschende Meinung, die sogenannten Brüder und Schwestern, also ihr, hatten, nach unseren offiziellen Medien zu urteilen, keinen leichten Stand, ihr wart Opfer, gar nicht zu reden von den Toten an der Mauer, die keine Erfindungen des Westens sind oder bestreitet ihr das? Anna begnügte sich damit, auf den großen Platz zu starren wie schon die ganze Zeit über, offenbar hielt sie deutliche Worte des Protests zurück. Wolf dagegen lächelte vieldeutig, zog die Brauen hoch und setzte zu einer Rede an, die sich als kalte Betrachtung der Opfer entpuppte und ihn mir noch fremder machte. Opfer, rief er leichthin aus, hat es auf beiden Seiten gegeben, wie immer in schwierigen Zeiten. Sind da Opfer nicht das normalste? Ist es jemals ohne Opfer abgegangen? Ich war irritiert und verwies auf Zahlen, auf die Beweise in Fülle. Die Bücher der Unterdrücker, die sie akribisch geführt hatten, reden doch eine eindeutige Sprache. Dürfen wir das ignorieren, fragte ich, oder wie gehen wir damit um? Worauf mich beide, Anna und Wolf, ansahen, als hätte ich eine unschickliche Frage gestellt. Umgehen damit, wiederholte Wolf, wie meinst du das? Er schien für kurze Zeit zu überlegen. Entscheidend ist für mich, ist für uns, er sah Anna bedeutungsvoll an, was künftig sein wird, ob wir daraus lernen und es besser machen. Ja, wir sollten gestalten, rief jetzt auch Anna aus, was wir gewonnen haben, und sah mich mit einem Anflug von Lächeln geradezu herausfordernd an, ja, gestalten, das neue, das größere Land ausrichten, die ungezählten Möglichkeiten nutzen, die sich bieten, und beim Schopfe packen. Neue Strukturen, rief sie mit fester Stimme, neue Verhaltensweisen, neue Sichtweisen, neue Menschen, ja, komplett neue.
Von Achim organisiert, einem der Ehemaligen, an den ich keinerlei Erinnerung hatte, begann das Klassentreffen im Zentrum der Stadt, dort, wo sich Straßenbahnen und Busse kreuzen und auf der Ecke ein berühmtes Museen steht. Das Klassentreffen war, wie ich bald feststellte, nicht besonders interessant, von denen, die gekommen waren, taten viele, als hätten sie im System keine Karrieren gemacht, andere hatten zu fliehen versucht, waren ertappt und ins Gefängnis geworfen worden. Über all diese Dinge sprach man nicht, sondern blendete die Zwischenzeit und alles, was in ihr geschehen war, aus, blieb unverbindlich, leicht obenhin mit einer Spur von Scheu, die kaum die Distanz überwand, die zwischen uns war und sich auch mit Lächeln nicht auflösen ließ. Alte Fotos ließen die frühere Zeit plastisch werden, Erinnerungen stiegen auf, verdichteten sich. Vom Restaurant ging es zu einer der zentralen Kirchen in der Altstadt, wo das große Foto geschossen werden sollte. Das Wetter war gut, die Sonne lachte und stand hoch, wir streiften auf dem Weg durch die Stadt auch den Andreasberg, das Nest der Staatssicherheit, auf das die meisten mit Schweigen reagierten, obwohl sie den Ort gewiß kannten. Auf den breiten Stufen der Kirche nahmen wir Aufstellung. Und jetzt, inmitten der Ehemaligen, dachte ich wieder an meinen verrückten und hartnäckigen Traum, dachte daran, die Guten von den Bösen zu trennen, wäre eine gute Idee. Aber wem davon berichten? Ich sah mir die Gesichter an, verglich sie mit ihren Gesichtern, als sie Schüler gewesen waren. Inzwischen waren Erwachsene aus ihnen geworden, gestandene Menschen, vom System geprägte. Würden sie die Idee begrüßen? Hella, die Deutschlehrerin, zum Beispiel oder Walter, der Architekt, der nur noch für die Kirche arbeiten durfte, Ursula, bei der es damals Westfernsehen gab. Oder Bärbel, die nach der Wende ihre private Wiedervereinigung feierte, als sie ihren Freund, der in dunklen Zeiten geflohen war, wieder in die Arme schließen konnte. Alle schienen in der Jetztzeit angekommen zu sein, und doch haftete ihnen etwas an, das ich nicht begriff. Vielleicht, weil bei den meisten von einer tieferen Haltung zur jüngsten Vergangenheit, gar Kritik an den ehemaligen Zuständen kaum etwas zu spüren war oder aber sie ihre Meinungen für sich behielten, womöglich beschäftigte sie der neue Alltag, mit dem sie konfrontiert waren, voll und ganz.
Eine Ausnahme bildete der dürre Enzian, der aus seinen Ansichten keinen Hehl machte und sich mit Leidenschaft zum System bekannte. War er schon immer der linientreue Befürworter gewesen, schon damals in der Klasse? Der Antifaschismus, die Parole Nie wieder Krieg!, die Abwesenheit von Arbeitslosigkeit, all das zählte er mit Stolz auf, das gute Miteinander der Menschen, die sich unterstützten und Mängel mit Phantasie und Kreativität überwanden, erträglich machten zumindest. Ich hörte ihm lange zu, fragte schließlich nach seiner Meinung zu den Mauertoten oder zum Unrecht der Staatssicherheit. Davon wisse er wenig, erwiderte er mir geradewegs ins Gesicht, im übrigen sei das Propaganda, und als solche immer der Versuch des Westens gewesen, den Staat zu diskreditieren. Die Dinge sind bekannt und erforscht, wandte ich ein, durch die Unterlagen der Staatssicherheit bewiesen, und davon willst du nichts gewußt haben, nicht mal etwas geahnt? Nein, so deutlich jedenfalls nicht. Er blieb fest, wobei ich nicht sicher war, ob er log oder die Wahrheit sagte oder einfach nicht wußte, daß er log. Später, als er mich ein Stück des Weges zum Hotel begleitete, dachte ich merkwürdigerweise wieder an meinen Traum, obwohl ich doch gerade bei Enzian kaum auf Verständnis hoffen durfte. Warum aber nicht dem Linientreuen davon erzählen? Zu meiner großen Überraschung hörte er zu, den Kopf aufmerksam wiegend. Mal angenommen, es gäbe all das, wovon du sprichst, reagierte er prompt, dann könnte so ein, wie du das nennst, Gremium tatsächlich helfen, die Überzeugten ausfindig zu machen, die Mitläufer und all diejenigen, die mit ihren Lippenbekenntnissen nur zum Schein zugestimmt hatten. Das Gremium würde einen Schlußstrich ziehen, sagte ich, froh darüber, daß er meinen Überlegungen wenigstens ein Stück weit folgte. Wir zündeten uns Zigaretten an und standen eine Weile im trüben Laternenlicht. Das Gremium könnte aber auch, fuhr Enzian fort, in ganz anderer Weise tätig sein. Es würde einer guten Sache dienen, beharrte ich. Offenbar war er ins Nachdenken geraten. Ja, gewiß, runzelte er die Stirn und begann dann, stockend, mit langen Pausen zu reden. Gewiß, klar, natürlich, einmal angenommen, es stimmt, was du sagst, was aber wäre, wenn die Gremien nicht den Aufarbeitern unterstellt wären, sondern ihre Direktiven von anderswoher erhielten, wenn es um die Identifizierung der Täter nur zum Schein ginge, wenn es, ja, ich weiß absolut nicht wie, aber ich stelle mir vor, wenn es um anderes ginge, um Erkennung, um Prüfung, also, anders gesagt, wenn man sich verhielte, als suchte man Leute für neue Aufgaben, für Aufgaben, die ein größer gewordenes Land zu verteilen hat, und von denen wir nicht den Schimmer von Ahnung haben. War das eine dieser plumpen Verschwörungstheorien, sprach Enzian über verschwiegene Order, über Geheimabkommen etwa, wie sie der Westen dem Osten so gern untergeschoben hatte? Und an was denkst du? Ich wurde ungeduldig. Nun, sagte Enzian, den Rauch langsam ausstoßend, der Osten ist als Alternative weggefallen, der Westen breitet sich ungehindert aus, er muß auf nichts mehr Rücksicht nehmen, niemand hindert ihn daran, zu expandieren, das ist seine große Chance. Enzian redete und redete, als sei alles, was er beschrieb, bereits Realität. Was meinst du mit neuen Aufgaben, welche sollten das sein? Keine Ahnung, er schien zu überlegen und zündete sich wieder eine Zigarette an. Braucht man nicht immer fähige, professionelle Leute? Vorausgesetzt, es gab sie im alten System, das heißt, du hättest recht mit deiner Behauptung von der Existenz dieses Riesenapparats, er hätte also tatsächlich existiert und wäre nicht bloße Erfindung eurer Propaganda. Für einen Augenblick dachte ich an meinen Wirt, an die Burschen, die ihn eingebuchtet hatten, und die er alle gekannt hatte, und mit denen er heute wieder sein Bier trinkt. Und dann fiel mir Anna ein. Hatte sie nicht von großen Aufgaben gesprochen und bekundet, das neue, größer gewordene Land gestalten zu wollen, und hatte ich sie nicht am Eingang des dunklen Hauses gesehen? Der unterirdische Raum, schoß es mir durch den Kopf, hatte er mit dem Gremium zu tun, und wenn ja, was betrieb man dort, Aufarbeitung oder Rekrutierung? War das das Gremium? Wurde das Papier, von dem ich nur vage und undeutlich geträumt hatte, dort vergeben, vergeben an Leute zum Beispiel, die sich, ungeachtet ihrer Vergangenheit, bedingungslos einsetzen ließen und benutzen in der Art, wie sie früher agiert hatten, nur besser, effizienter, eben vierzig Jahre weiter? Spekulation, dachte ich, nichts weiter, doch obwohl, mal angenommen, da wäre etwas dran? Ich schüttelte den Kopf, stammelte etwas, während Enzian mir zum Abschied mit einem Lächeln auf den Lippen die Hand reichte und in der Altstadt verschwand.
Für Wolf war der seltsame Raum, den ich ihm am nächsten Tag in lebhaften Farben schilderte, nichts besonderes. Er gab sich Mühe, nachdenklich zu erscheinen, und sparte auch nicht mit verharmlosenden Mutmaßungen, die mir wenig glaubhaft erschienen. Meine Vermutung war, er habe nicht zugeben können, von dem Raum gewußt zu haben. Es könnte sich um völlig normale Räume handeln, versehentlich unverschlossene oder gerade erst eingerichtete und daher ohne Firmenschild am Vorderhaus, so seine Rede. Das klang plausibel, fand ich, aber war es wirklich so? Dieser mit modernstem Mobiliar ausgestattete unterirdische Saal mußte, das spürte ich deutlich, eine andere Bewandtnis haben. Außerdem hatte ich Anna gesehen, und daß ich sie gesehen hatte, davon war ich heute mehr überzeugt als in der letzten Nacht. Ihre Anwesenheit verschwieg ich Wolf zunächst, die Fragen aber blieben: Welche Rolle spielte sie, warum hatte sie mich, als sie mich bemerkt hatte, und daran zweifelte ich nicht mehr, nicht begrüßt? Wir saßen wieder in einem der Cafés in der Innenstadt, einem kleinen Eckladen am Fluß, der die Stadt teilt, übrigens direkt am Ende der Straße gelegen, in der ich das unterirdische Gelaß entdeckt hatte. Es war warm und die Menschen leicht bekleidet, sie kniffen die Augen in Richtung Sonne zusammen. Ich wollte mit dir, lenkte ich auf meinen Traum über, noch über etwas anderes sprechen. Bevor ich mich ins Auto setzte und hierher fuhr, hatte ich einen sehr ungewöhnlichen Traum, einen Traum mit einer, wie mir scheint, grandiosen Idee. Er handelt, nun, wie soll ich das sagen, von Schuld, von der Möglichkeit, mit dem Schmutz der Vergangenheit fertig zu werden, also die Menschen vom Mißtrauen zu befreien, das sie einander entgegenbringen. Wolf saß aufrecht und schien gespannt zuzuhören, konzentriert. Und dann erzählte ich, nannte die Punkte, die ich erinnerte, wozu Wolf zunächst schwieg und an mir vorbei blickte in den Raum. Eine schöne Geschichte, sagte er schließlich, als ich zu Ende war, nicht ohne ironischen Unterton. Fein ausgedacht, wirklich ausgezeichnet, bravo! Was meinte er? Wieso eigentlich Mißtrauen zwischen den Menschen, wie kommst du darauf? Seine Worte erschienen mir fremd, ich dachte unwillkürlich an meinen Wirt und seine alten Freunde vom Andreasberg. Vertraute denn er seinen einstigen Peinigern wieder? Wir haben doch alles getan, sagte Wolf, was jetzt nach Rechtfertigung klang. Wir haben die Guten von den Schlechten getrennt, haben die Schlechten zu strafen versucht, und jetzt machen wir etwas Neues, etwas in der Art, wie Anna das gestern angedeutet hat. Worauf ich ihn wohl ziemlich ungläubig ansah. Meinst du nicht, daß da noch viele sind, die die neue Zeit nicht wollen oder gar bekämpfen, die schießbereiten Grenzer, die Leute von der Staatssicherheit, die Lehrer und Parteifunktionäre, die vielen Mitläufer? Doch, doch, das glaube ich, beteuerte Wolf, doch wie etwas ahnden, wo kein Wissen ist, kein Beweis, keine Zeugen? Zu viele sind in Deckung gegangen, auf Tauchstation, sind brave Leute geworden nach außen. Aber erstens kennen wir sie nicht, und zweitens, und das ist wichtiger, viel wichtiger, sind sie denn überhaupt für Neues geeignet? Er machte eine Pause und sah mich fragend an. Ja, du hörst richtig, nach zwei Diktaturen sind sie erledigt, fuhr er schließlich fort, unbrauchbar, oder besser: verbraucht, stumpf. Du schreibst sie ab?, fragte ich noch mal. Ja, sagte Wolf und sah mich wieder sehr direkt an. Ja, ich schreibe sie ab, und ich meine gar nicht die Verbrecher, die Täter, jene, die geschossen oder das Schießen befohlen haben, sondern die einfachen Leute. Du gibst sie auf, insistierte ich. Ja, reagierte Wolf, ruhig und kühl, als sei er nicht zum ersten Mal mit dieser Frage konfrontiert worden. Ich dachte an das Leben im Getto, zwischen Zäunen, entsicherten Waffen und scharfen Hunden, und das alles auf einem Lande, das von dieser Betonmauer geteilt und mit Giften zugepflastert war, damit auf den Todesstreifen nichts mehr gedeiht. Die Grenzer, die Funktionäre in den Behörden, der Apparat, der plötzlich niedergegangen war, von einem Tag zum anderen aufgehört hatte, wo sind sie geblieben, was tun sie heute?, fragte ich Wolf. Er stimme mir doch zu, nickte er und zuckte zugleich mit den Achseln, während ich an mein gestriges Erlebnis dachte, an Anna, die mich nicht bemerkt oder so getan hatte, als bemerke sie mich nicht. Was tut eigentlich, fragte ich, um das Thema zu wechseln, was tut Anna hier, kommt sie aus unserer Stadt? Soweit ich weiß nein, gab Wolf zögernd zurück, nein, sie kommt aus Sachsen … Und heute? Ich weiß nicht, sagte Wolf, sie hat meines Wissens einen politischen Auftrag, etwas Großes. Und woher kennst du sie? fragte ich, leicht verwundert über meine unverblümte Neugier. Ach, sagte Wolf, das ist eine lange Geschichte … früher, noch in Zeiten der Unterdrückung, da waren wir mal zusammen, ein Paar waren wir, ein richtiges Paar, für mich war es die große Liebe, für sie eher, nun ja, vielleicht eine Station von vielen. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem System, war aber im Grunde nicht dagegen, paradoxerweise sogar recht privilegiert, denn die Eltern waren hohe Offiziere der Staatssicherheit gewesen, Anna wurde also gefördert, durfte eine Zeit lang reisen … Und heute, diese politische Aufgabe, die sie angeblich hat, worin besteht sie? Wolf zögerte. Wußte er es nicht oder wollte er sich nicht äußern? Ich kann es dir nicht sagen, beim besten Willen nicht, erwiderte er schließlich, irgend etwas Großes muß es sein, etwas, das uns alle betrifft. Ich fragte nicht weiter, erwähnte aber abschließend, daß ich sie gesehen hätte gestern, Anna hätte ich gesehen, sie sei in dem Haus verschwunden, zu dem dieser unterirdische Konferenzraum gehört, nachts weit nach Zwölf, gerade mal dreißig Meter von mir entfernt.
Den Kopf voller neuer Bilder, in Gedanken die Begegnungen mit den Klassenkameraden, mit Anna und Wolf und meinem freundlichen Wirt hatte ich meine sieben Sachen gepackt und war mit gemischten Gefühlen in den Wagen gestiegen, um die Heimreise anzutreten. Irgendwie lag jetzt, dachte ich, während ich fuhr, ein Schatten auf der Stadt, das Bild, das ich bei meinen letzten Besuchen gewonnen hatte, war eingetrübt, beschädigt. Hatte ich den Terror aus der Systemzeit vergessen, hatte ich nichts mehr von den Genossen auf dem Andreasberg wissen wollen, von überfüllten Gefängnissen und Prozessen unter Ausschluß der Öffentlichkeit? Dann rief Wolf an. Ob ich Lust hätte, ihn zu treffen, am besten sofort, wenn es mir nichts ausmache. Doch, sagte ich, es macht mir etwas aus, ich bin bereits auf dem Heimweg. Schade, sagte er, er sprach betont langsam. Du hast doch von diesem Raum erzählt, diesem unterirdischen Saal in der Johannesstraße. – Und? Wolf schien zu überlegen, er schwieg. Was ist, Wolf, sag schon? In diesem Raum, den du gesehen hast, ist heute nacht ein Feuer ausgebrochen, er ist total ausgebrannt, alles weg, alles verbrannt, Schluß. Und was ist daran komisch, fragte ich. Komisch ist das nicht, erklärte er. Daß es gebrannt hat, wissen wir, aber warum und wem der Raum gehörte und vor allem, was sich dort abgespielt hat, darüber wissen wir nichts, es gibt keinerlei Information, die Polizei hält sich bedeckt und verhängt eine Art Nachrichtensperre, nichts dringt nach draußen, das wird ein Fall für, na, ich weiß nicht für wen! Und wir, die Journalisten, sind regelrecht abgewimmelt worden, niemand hat geplaudert, selbst übliche Quellen schweigen, eigenartig nicht? – Eigenartig, daß Du Dich noch immer als Journalist ausgibst, obwohl Du doch anderes warst, sagte ich auf dem Parkplatz, auf den ich inzwischen gefahren war … Naja, das ist lange her und war harmlos, protestierte er halbherzig. Immerhin war die Entdeckung des Raums wohl etwas besonderes. Wolf machte Hm. Es kommt leider noch besser, sagte er leise. Was noch? Er druckste herum und sagte schließlich mit leiser Stimme, daß Anna verschwunden sei, wie vom Erdboden verschwunden, verstehst du, ihr Handy ist tot und zu Hause, da ist sie auch nicht, nirgends ist sie. Sie ist vielleicht, versuchte ich ihn zu beruhigen, weggefahren, verreist, ist es nicht für Sorgen zu früh? Und überhaupt, ihr seid doch längst nicht mehr zusammen? Wolf schien den Kopf zu schütteln. Das ist es nicht, erwiderte er sehr leise, wir hatten vereinbart, uns ein Zeichen zu geben, wenn etwas aus dem Ruder läuft, und sie hat es gegeben – es bedeutet: höchste Gefahr.