Stimmen, fern, kaum

Stimmen, fern, kaum

Er hat­te die Staus und Bau­stellen der normalen Route hin­­ter sich ge­bracht, hatte gedankenverloren den Wagen ge­steu­ert, Radio ge­hört, Kassetten einge­legt, doch jetzt, plötzlich, dieser Wech­­­sel, dieser Punkt, der immer anders ist als in sei­nen Vor­stel­lun­gen, kon­kre­ter, lebendiger, nicht anti­zi­pier­bar im Grunde. Im­mer wie­der hat­te er versucht, sich diesen Augenblick ins Ge­dächt­nis zu rufen.

T. drosselt die Fahrt, der Wagen soll langsam hinab­gleiten, soll den sanften Schub auskosten, den die Hügel verursa­chen, nur möglichst lange fühlen, sagt sich T., wenn das Land Wei­te er­hält, sich öff­net und rekelt wie eine Ge­­liebte, die er­wacht. Er ge­nießt den Anblick, er begrüßt die wei­ten Felder, die verstreuten Kirch­tür­­me, die schie­fer­grau auf­ra­­gen über den ver­borgenen Dör­­­f­ern, Punkte, die von alter Ord­nung kün­den. Die Land­schaft zeichnet sich, wun­derbar un­auf­ge­regt und milde, mit schnel­ler, spitzer Fe­der, ver­vollständigt sich und fügt sich in dün­nen Stri­­chen, die noch die streich­holz­ho­hen Baum­reihen am Hori­zont er­wähnen, zu einem tiefge­staf­fel­ten vollen ­Bild. Nur se­hen und auf­neh­men, nur wiedererkennen, da, im Mit­tel­grund, zum Bei­spiel die schmale Straße, zwi­­schen Obst­­wie­sen, Äckern und Wei­den zün­gelt sie und spielt den dunk­len Fur­chen nach, die mal pa­rallel verlau­fen, dann im rech­ten Winkel zur Auto­bahn, ein sanft welliger Boden, dem sie sich an­schmiegt wie dem auf­re­genden Körper das Kleid.

Wie immer sucht er, wenn er hier fährt, längst die Gegend nach Zei­chen ab, er folgt dem Spiel der Son­ne, den leuch­tenden Flä­chen, die sie aus der Ebene sticht, milde er­dige Far­ben, die sich tau­sendfach abstufen, sich fe­stigen und entgleiten, die Gram­ma­­tik der Land­schaft, die sich unaufdringlich auspro­­biert und kleine Geheimnisse offenbart, tief hin­ab Intimes andeutend im Prä­sens des Augen­blicks. Endlich ist er da, endlich. T. fühlt eine Hand nach ihm tasten, ei­nen Anspruch, Worte, seit lan­ger Zeit for­­­muliert. Erste Ge­höf­te tauchen auf, über­wu­cher­te, aus schwarz­­­­roten Ziegeln gefügte Ge­­bäude, das Leben, emp­findet er, der alles sehen will, wirklich alles und lächelt, rückt nä­­her. Hinter Hü­geln und Senken wieder das lo­ckende Ver­steck­­spiel der Landstraße, ent­schlossen schlän­gelt sie nun dem Zen­trum der weiten Ebene ent­­ge­gen, umspielt die Bur­­gen, die in der Fer­ne auf­ra­gen, das verwitterte Braun ihrer Rui­nen, scharf­­kan­tig, zackend, thro­nend bald über der Ebe­ne und trot­zig wie aufge­ge­bene Wach­­türme, lange Über­gän­ge zur Na­­tur, und wie­der ist T., als höre er Rufe, leise ge­flü­stert Worte, eine weib­li­che Stim­me na­tür­lich, wer, Tania, du? Sie spricht von War­ten, von Ver­mis­­sen, lange, ach, zu lange schon hält dein Wegsein an, fühlst du es nicht?

Für Augenblicke stehen die Burgen wie weite Fenster, wie Kin­der­tore rechts und links der Autobahn, durch die es, an Jahren und Tiefen vorbei, zurückgeht ins Da­mals, zurück zu Spiel und Ausflugzeit, zum Schnitzen an frischen saftigen Stö­cken, di­rekt hinein in die Aben­de gro­ßer, glückseliger Müdig­keit. Und wäh­rend die Dreispur wie ein Endlos­band grau schim­­mernd in gro­ßem Bo­gen die Landschaft durch­mißt, häu­fen sich Hinweise, Schil­der in blau und weiß beugen sich über den Wa­gen und schla­gen Rich­tungen vor, Ziele und Orte, die zu die­ser Stun­de emp­fan­gen, jetzt. Bin ich angekom­men? Wel­chen Win­kel möch­test du sehen? Nimm die nächste Abfahrt, die nächste Ab­fahrt ist es, dort, wo es zur Stadt hin­abgeht, du folgst der steilen Kur­ve, läßt dich mit der Straße in den Wald fallen, den Steiger­, du weißt schon, Hubertus mit seinen Stühlen und Ti­schen taucht zur Rechten auf, das Waldschlößchen, das be­wahr­­te Fach­werk in­mitten der umherste­hen­den Bäu­me, ein spitz­tür­miger Wett­ei­fer, versäum das nicht!

T. hat Lust, den Wagen stoppen, er möchte den Ton zu­rück­­spu­len und noch mal, nein im­mer wieder die Stimme hö­ren. Sie wohnt in der Landschaft, sie ist weich, warm, weib­lich und wohl­tuend nah, sie kennt mich, denkt er. Du wirst an den Rän­dern der Stadt die al­ten Zei­chen sehen, alles wirst du erkennen, nichts ist doch wirklich vorbei, nichts vergangen, alles ist be­wahrt, für dich. Im Wald findest du die alten Wege und Schnei­sen, und im Schat­­ten der Baum­fluchten die Ge­heim­nisse, die du ver­ges­sen hast. Mit pochendem Hals bist du da ge­gangen, nur heraus aus dem Weich­bild der Stadt, hin zu den Bäumen und Moosen und dem Geruch von Haut im hohen Gras.