Neue Menschen

Neue Menschen

Der Traum war mir zu­hause, als ich ihn träumte, noch als Mah­­nung er­schie­­nen, als eine Art Auftrag, als eine Idee, die ich am Schreib­tisch fest­­halten mußte, um sie an den Mann zubringen. Doch hier, in den Neuen Ländern, fühl­te sie sich mit einem Ma­le va­ge an und sinn­los, eine schwache Phan­tasie, ein Ge­bil­de oh­ne Re­a­li­täts­­bezug. Und wem davon er­zäh­len? Wo­mög­lich wür­de das Gre­mi­um, auf das mich der Traum gebracht hatte, voraus­ge­setzt, es werde jemals ins Le­ben gerufen, weder die Men­­schen än­dern noch die Ver­­su­chun­­gen be­sei­­ti­gen, die im­mer und überall exi­stieren, wenn es um Macht geht; aus­zu­rot­ten waren sie nicht. Der be­freun­dete Autor, den ich in die­sen Ge­dan­ken anrief, galt mit seiner Ein­schät­zung po­li­ti­scher Sze­na­rien als un­schlag­bar. Mit wem willst du das ma­­­chen, mit neuen Men­­schen, schön, aber wo­her nehmen? Von neu­en Menschen hat­­­te ich schon An­­na im Café sprechen hören, ein Schlag­­wort, wie mir jetzt schien, ein Mode­wort, das im Umlauf war, nicht mehr. Und wer, bitte schön, sitzt in diesen Gre­mien, wer lei­tet sie, wer fällt die Ent­schei­­dungen, wer stellt das rei­ni­gende Pa­pier aus?

Da der Schlaf nicht kommen wollte, trieb es mich in die Stadt, ich begegnete ver­ein­zelten Pas­santen, die noch un­ter­wegs wa­­ren oder auf die letzte Tram war­te­ten. Das Treffen mit Anna und Wolf ging mir nicht aus dem Kopf, allerdings nahmen auch die Zweifel an dem Traum zu, als ich die schla­fen­den Gas­sen durch­streifte. Eine ide­a­li­stische Spin­nerei, sagte ich mir und schüttelte den Kopf. Ich ging die Markt­­stra­ße ent­lang, dem Fisch­­­markt zu und kam schließlich am neu­go­ti­schen Rat­haus vor­­bei, vor des­sen ho­hen Fen­stern sich neue Fah­nen be­­weg­ten. Und wäh­rend ich in Ge­dan­ken der Straße in Richtung An­ger folg­te, hör­te ich plötz­lich Ge­­räusche, un­gewöhnli­che Ge­räu­sche, die in der engen Straße rhyth­­­­misch wi­der­hal­l­ten, prä­zi­se, stak­ka­to­haft. Bald war mir klar, daß es Ab­sät­ze waren, ho­­­he Ab­sätze, die kla­ckten, kein Zwei­­fel, und sehr deutlich zwi­­schen den eng stehenden Häu­sern zu hören, und dann sah ich sie, die Frau, sie ging in vier­zig, fünfzig Meter Ent­fer­nung vor mir her. Das blonde, kräf­­ti­ge Haar hoch­ge­bun­den, die schlan­­ke Ge­stalt im grau­en Ko­stüm, all das kam mir be­kannt vor. Augenblicke spä­­­ter wuß­­­te ich, daß es An­na war, An­na, die ich doch am Tage erst ken­nen­gelernt hatte. Ich ver­­­­such­te sie auf­zu­ho­len, be­schleu­­nig­te mei­ne Schritte, doch ver­ge­­bens. An­na lief ohne sich um­­zu­se­hen, stramm, in gro­ßer Eile und ver­schwand von einer Se­kun­de zur näch­sten in einem der letz­ten Häu­ser vor der Brü­cke am Fluß. Als ich dort an­ge­­langt war, war sie wie vom Erd­boden ver­­schwun­den. Ich dreh­te mich auf dem schma­­­len Bür­gersteig um die ei­ge­ne Ach­se und war doch allein, keine Anna, über­haupt kein Mensch weit und breit.

Die Tür des Hau­ses schien ver­schlos­sen, Klin­gel­schilder fehlt­en. Ich drück­te, einem plötz­li­chen Impuls fol­gend, ver­suchs­­­wei­­se gegen die Tür, die zu mei­ner Verblüffung nach­­gab und sich öffnen ließ. Da­hin­ter, in einen Innenhof füh­rend, ein ge­­pflas­terter Durch­gang. Ich tastete mich vor­wärts, be­merkte noch, wie sich die Tür hin­ter mir ge­schlos­sen hatte. Die Mit­te des Hofs überkronte ein mächtiger Baum, schließlich ein zwei­­ter Hof unter ei­nem Quer­ge­bäude, das die beiden Sei­ten­flügel offenbar ver­ban­d. Und überall schwar­ze Häu­­­ser­fron­ten, blin­de Fen­ster, die mich an­starrten, doch dann fiel mir eine Tür auf, die sich öff­nen ließ wie die erste, wobei sie in den Schar­nie­ren heftig quietsch­te, daß es mir in alle Glie­der fuhr. Aber alles blieb still, und ich öff­nete voll­stän­dig die Tür und fand mich ei­nem Flur ge­­­gen­über, von dem eine Trep­­­pe ab­ging, und auf ihr schwa­cher Licht­­­schein, der nur von un­ten kom­­men konnte, von einem Un­ter­­ge­schoß, einer Art Kel­ler, ei­nem un­terirdischen Raum. Vor­sichtig das wack­­­lige Ge­län­der er­­grei­fend, stieg ich hin­ab, mach­te auf Ze­hen­spit­zen die Keh­re der Treppe mit und stand nach den letz­ten Stu­fen in ei­nem gro­ßen, nahezu dunk­­len Raum, in dem so gut wie nichts zu er­ken­nen war. Mit der Hand fuhr ich auf gut Glück über die Wände und fand tatsächlich einen Licht­schalter. Nachdem ich ihn betä­tigt hatte, war mein Er­stau­nen groß: ich sah glei­ßendes, ge­wis­sermaßen offi­ziel­les Licht, das den Raum in schattenlose Helle taucht­e und je­den Win­kel aus­leuchtete, ich sah Mö­bel und Kon­fe­renz­tische, be­que­­me Pol­s­ter, Lam­pen und Mo­­­­­­ni­tore, und, er­höht vor der Wand am hin­teren En­de des Saals, eine Art Po­di­um mit sechs oder sie­ben le­dernen Ses­­seln, ge­putzt alles, sau­ber, als sei der Raum vor Stunden noch in Be­nutzung ge­wesen oder würde es bald wieder sein.

Sofort begann ich zu spekulieren. Welche Funktion hatte das Gelaß? Was wird hier gespielt? Wäh­rend ich zum Ho­tel zu­rück­ging, war sie wieder da, die Idee, die mir der Traum zu­hause suggeriert hat­te, ein klarer prä­­zi­ser Traum, der traum­lo­gisch er­zäh­lte, Bild für Bild. Soweit ich das Gebilde an diesem sonnigen Morgen verstanden hatte, waren das Hinweise auf ein Tribunal, auf ein heim­li­ches Ge­richt, das auf nahezu surreale Weise die Gu­ten von den Bö­sen son­­­­dert und erste­re mit einem Paß ehrt, einem Zer­ti­fikat, das ihnen in der neuen Welt Tür und Tor öff­net. Allerdings war der Traum an die­sem Punkt ne­bel­haft ge­blie­ben, dun­kel und ausge­spro­chen undeutlich. Es wird sich um einen Frei­brief han­deln, hatte ich gemutmaßt (und nie­dergeschrieben), um ein spezielles Pa­pier, das die An­trag­steller von jüng­sten Ver­feh­lun­gen frei­­spricht und ihnen at­te­­­stiert, im nun ver­ein­ten Staat brauch­­­­bare, so­zu­­sagen sau­bere Bür­­­ger zu sein.

Al­so Bürger ohne Fehl und Ta­del, hatte ich mir im Wagen ge­sagt, als die Son­ne hoch­stieg, und ich meine Hei­matstadt an­­steu­erte, um an dem Klassentreffen teilzu­neh­men, zu dem ich eingeladen worden war. Die Fahrt ging zuletzt durch die Neu­en Länder, durch Gegenden, die noch grau wirkten, mono­ton, die Wende war gerade erst geschehen.

Was aber ge­­schä­he mit je­nen, hatte ich mich noch im Auto ge­fragt, die die Prü­fun­gen nicht be­­stehen, das Papier nicht er­hal­­ten, wä­ren das Durch­­gefallene, Aus­­­ge­sto­ße­ne, für im­mer Stig­ma­tisierte, und wie und wo wür­­den sie, die doch auf der Straße von den Guten nicht zu un­ter­scheiden sind, mit die­sem Ma­kel heu­te le­ben? Je blas­ser die Bilder wurden, desto mehr Fra­gen waren ent­standen, bis ich schließ­lich vollständig erwacht war und die Flut der Anspielungen wie weggewischt. Wer würde diese Zu­sam­men­­künfte lei­ten, schob ich als Frage hinterher, würde ein sol­ches Gre­mi­um öf­fent­­lich tagen oder ge­heim, wür­de es in An­be­tracht der vie­len, die zu prüfen sind, unter Um­­stän­den meh­re­re ge­ben, viel­­leicht ei­nes pro Stadt? Das Bil­der­ge­spinst des Traums hatte sich ja zu vielen dieser Punk­­te le­dig­lich vage oder gar nicht geäußert, mir aber eine hellsichtige Ah­nung ge­schenkt, die alles war, nur nicht klar begründet.

Beim Frühstück im Hotel am Morgen nach der Entdeckung des Gelasses fragte der Wirt, ein klei­ner, schon äl­te­­rer freundlicher Mann, ob es mun­de. Wa­rum er sich nicht set­ze, fragte ich, wir seien doch allein. Ich sei wohl nicht von hier, fragte er dezent und setzte sich tat­säch­lich mit sei­ner Tasse zu mir an den Tisch. Nein, sagte ich, und doch ja. Frü­her hätte ich in die­ser Stadt ge­lebt, ich sei hier geboren und zur Schu­­le ge­gan­­gen. Aha, sagte der Wirt, und ir­gend­wann ist es … Stimmt, be­stä­tig­te ich, ir­gend­­wann ist es nicht wei­­­­­­ter­gegangen. Ich ver­stehe, sagte er, ähn­­lich war es bei mir, nur ging ich da­mals nicht in den We­sten, son­dern di­rekt ins Gefängnis. Tja, so war das. Einer der Gä­ste hatte ihn ver­ra­ten und an­­­ge­zeigt, wenn Sie wis­sen, was ich mei­ne. Da­­nach der Prozeß, Ver­leum­dung wur­de mir zur Last ge­­legt, Ver­­ächt­lich­ma­chung des Staa­­­­tes und sei­ner Ord­­nung, und wo­für? Für eine Hand­voll Witze an die­sem Tisch hier, an dem wir mo­men­tan sitzen, er poch­te mit dem Hand­knöchel da­rauf. Das gan­ze Pro­gramm für ein paar harm­­­lose Wit­ze, ja, da stau­­nen Sie, was

Ich habe heut nacht, wechselte ich das Thema, einen unter­irdischen Raum entdeckt, der verlassen war, unbewachtAch?Im Hin­ter­hof des letzten Hauses vor dem Fluß lag er, versteckt, unbeleuchtet, aber na­gel­neu alles. Die Blicke des Wirts gingen im Raum umher, er war fraglos in Gedanken, dachte nach. Davon habe ich gehört, vage allerdings, nix ge­naues …Kurz vorm Fluß, sagen Sie, das ist die Johan­nesstraßeJa, sagte ich, wozu ist er da, was glauben Sie? – Man munkelt etwas von Seil­schaf­ten, aber Genaues, bedaure, keine Ah­­nung. Er stand auf, um sich neuen Kaffee zu besorgen, und räusperte sich. Offenbar sind sie wieder aktiv, selbst hier in meinem Hotel, die Freunde, die mich ver­hör­ten und ein­buch­te­ten – er zeigte mit dem Finger in Rich­tung An­dreas­berg, dem ehe­­ma­ligen Sitz der Staats­­­­si­cher­­heitsorgane –, sie sit­zen an die­sem Tisch, und wir trin­ken zusammen und aus die Maus, Schwamm drü­­­ber … Vor al­lem, sie füh­len sich als Sie­ger, als Sie­ger auf ganzer Li­nie und stim­men alte Töne an, nach drei oder vier Bie­ren glau­ben sie, ihre Zeit sei zu­rück­ und nichts ge­schehen, und am Ende ver­lassen sie wankend die Gast­stät­te, die net­ten Herrn mit den alten Liedern auf den Lip­pen, ge­linde gesagt ist das eine ziem­liche Schwei­nerei … Aber ohne die Ge­stri­gen wäre hier bald Schluß, wie soll ich das sa­gen, das Le­ben geht halt weiter, einfach im­mer wei­ter, da kann ich nicht abseits ste­hen. Und plötzlich hatte ich die Idee, ich weiß nicht warum, ihn nach Wolf zu fragen, den er vielleicht vom An­dreasberg her kann­te, und beschrieb ihn so genau wie möglich. Mein Alter, ziemlich groß, grau meliertes Haar, Schnurr­bart? Der Wirt kratz­te sich am Kopf. Ja, so einen habe ich erlebt, ziemlich sicher so­gar.

Wolf hatte mich gestern, we­­ni­ge Stunden nach mei­ner An­kunft, als ich Schau­fenster be­trach­tete, ange­rufen. Ich fragte Wolf, wer? und wollte schon auf­le­gen, als mir däm­merte, daß es sich um Ste­fan Wolf handeln könn­te, den Schul­ka­me­raden von einst. Wie er meine Nummer heraus­ge­fun­­den hatte, wollte er nicht sa­­gen. Oder ging das im Ge­spräch unter? Er frag­­te, wo ich sei, und schlug ein Treffen in dem Café un­­terhalb der großen Kir­che vor, das am Domplatz liege, man sitze da be­quem und habe eine schöne Sicht auf die Alt­stadt mit ihren in­zwi­schen re­stau­­rierten Fach­­werk­häu­sern. Mitgebracht in das Café hatte er An­na, eine ele­­gante Er­­schei­nung, schlank, das blon­­de Haa­r hoch­ge­bun­den, aller­dings in ihrem Wesen eine Spur zu schroff, zu kühl für meinen Geschmack. Wolf dagegen wirk­te gelöst, auf­­­ge­räumt und re­de­te, als hät­ten wir uns vor Tagen erst ge­se­hen, ob­wohl uns vier lange Jahrzehnte trenn­ten. Mein Werde­gang in­­ter­es­sie­r­te ihn, über meine Zeit im We­sten wollte er alles wis­sen, wäh­rend er, aber das kön­ne ich mir ja denken, aus­ge­harrt hät­te, sich mit dem System her­um­ge­schla­gen und an­ge­eckt sei und Un­an­ge­nehmes erlebt hät­te.

Und plötzlich un­ter­brach ihn An­na und wies auf ihre spä­te Flucht hin, die sie in den letz­ten Mo­naten des Schre­ckens­re­gi­mes un­ternom­men hat­te. Dem Druck nach­ge­bend, will sie sich eine Fahr­karte nach Bu­da­pest ge­kauft und sich von dort zur Grenze durch­ge­schla­gen haben, was, wie sie bei­läu­fig be­­ton­te, nicht ohne Kom­­­­pli­ka­tionen abge­gan­­gen sei. Jetzt aber sei sie hier, schloß sie mit leichtem Lä­cheln, sie be­reue den Schritt kei­nesfalls und erfreue sich vielmehr ihrer ungewohnten Frei­­heit. Der Satz er­schien mir me­cha­nisch, ir­gendwie be­­stellt wie ei­ne Pflicht­aussage, aber warum? Wie groß ih­re Freude tat­­säch­lich war, habe ich nie er­fahren. Und du?, zog Wolf das Ge­spräch wie­­der an sich. Vor Unzeiten hätte ich ihn ver­lassen, er sagte tat­säch­lich mich verlassen, ich sei ein­fach ge­­­gan­­gen, und nun bist du wie­der da! Ja, erwiderte ich, nun bin ich wieder da. Und gespannt auf das Klassen­tref­fen über­mor­gen und darauf, wie die an­de­ren wohl aus­sehen und was sie sagen wer­den nach so lan­ger Zeit? – Sie werden das Blaue vom Himmel her­unter lü­gen, stellte Wolf wie aus der Pistole ge­schos­sen fest, als hätte er diese Be­mer­kung er­war­tet. Wie schrecklich alles ge­wesen sei, und welche Opfer sie hätten brin­gen müssen, wie klein und eng und grau die Welt gewesen sei, schrie Wolf beinahe. Und sich rüh­men, das Sy­stem in die Knie ge­zwun­gen zu haben, auf die Stra­ße ge­gan­gen zu sein, als es, aber das ver­schwei­gen sie gern, nicht mehr ge­fährlich war, all das wer­den sie sagen. Wolf hatte von einer Minute zur an­deren seine Hal­tung ver­än­dert, er war ernst ge­­wor­den, und die an­fäng­liche Freund­lich­keit war einer Ver­­bit­te­rung ge­wi­chen, ja, einer Här­te, die ich mir nicht er­klä­ren konnte. Und Ste­fan, warf ich ein, ha­ben sie Un­recht, re­den sie sich auf et­was her­aus? Das ist es nicht, sagte er nach einer Weile, wäh­rend Anna nach wie vor auf den gro­ßen Platz starrte und schwieg. Zu de­nen zu ge­hö­ren, die auf der Straße für ein fried­liches Ende ein­ge­tre­ten wa­ren, das ist keine gro­ße Sache, wirk­lich nicht, auf das Ziel kommt es an, auf das, was man wirklich will, auf das, was nach­her kommt, auf die große Vi­sion. Von der Wieder­se­hens­freu­de, die unser Ge­spräch zu An­­fang be­stimmt hat­te, war, wie ich fand, nicht viel ge­blie­ben. Ich spür­te etwas Frem­des an ihm, einen Vor­behalt, etwas ließ ihn bei allem, was er sag­te, zögern. Daß ich vor mehr als vierzig Jah­ren dem Lan­­de den Rücken ge­kehrt hatte, soll­te das eine Rolle spie­len und ihn ge­gen mich ein­neh­men? Oder lag es an Anna, die noch im­mer schwieg und ab­wesend, wie mir schien, durch die Schei­ben auf den großen Platz starrte, der zur Stunde schon recht leer war, von den War­­­ten­den an der Haltestelle der Stra­ßen­bahn ab­­ge­se­hen. Ich dach­te an den Traum, den ich vor der Ab­fahrt geträumt, an die gran­diose Idee, die er mir ein­ge­geben hat­te, und an die Ab­sicht, darüber zu spre­chen, und spürte plötzlich Zweifel aufkommen am Sinn des Ganzen, eine Er­nüch­terung, die ich wegzu­drü­cken ver­suchte. Und dann dach­te ich an mein Buch, das Fak­ten ins Feld füh­­­ren würde, die mei­nen Stand­punkt und nicht nur mei­nen un­­­ter­mauerten, was im Him­­mel hat­te ich, der Ossi aus dem We­­sten mit der Ver­ei­ni­gung zu schaf­fen? Tja, mein Lie­ber, sag­te Wolf und riß mich, als hät­te er meine Distanzierung be­merkt, aus mei­nen Ge­danken. Er schien sich wieder in der Ge­­walt zu ha­ben und war zu dem freund­­li­chen Zeitge­nos­sen zu­rück­ge­kehrt, der er noch am Te­le­fon ge­wesen war. Tja, mein Lieber, wir blicken auf viele Jahre des Schwei­gens zu­­rück, un­sere beiden Staaten ha­ben sich aus­ein­an­der ent­­wi­ckelt, und wir wohl mit ihnen. Vom anderen hatten wir keine Ah­nung, je­der war in sei­nem Leben gefangen, nicht er­reich­bar für die an­dere Seite, je­der sprach­los in seinem Winkel und stumm, am Ende wußten wir nicht mal mehr von­einan­der.

Da aber prote­stierte An­na. Was soll das heißen, rief sie aus, jeder in seinem Winkel? Das sind schiefe Bilder, befand sie, die zu nichts füh­ren. Gab es bei uns nur Ver­folgung, nur Druck, nur Angst? Mir war da­nach, ein Jazu ru­fen, ich hielt mich aber zurück. Im We­sten war das, gab ich statt dessen mit großer Vorsicht zu be­den­ken, die herr­schende Meinung, die so­ge­nann­ten Brü­der und Schwe­­­stern, al­so ihr, hatten, nach unseren offi­ziellen Me­dien zu ur­tei­len, kei­­nen leich­ten Stand, ihr wart Op­fer, gar nicht zu re­den von den To­ten an der Mau­er, die keine Erfin­dun­­­gen des We­­stens sind oder be­streitet ihr das? An­na be­­gnüg­te sich da­mit, auf den gro­ßen Platz zu star­­ren wie schon die ganze Zeit über, offenbar hielt sie deut­liche Wor­te des Pro­­tests zu­rück. Wolf da­­ge­gen lä­chelte viel­deu­tig, zog die Brau­en hoch und setzte zu einer Re­de an, die sich als kalte Be­trach­tung der Op­­fer entpuppte und ihn mir noch fremder machte. Opfer, rief er leichthin aus, hat es auf bei­den Seiten ge­ge­ben, wie immer in schwie­rigen Zei­ten. Sind da Op­fer nicht das nor­­mal­ste? Ist es je­mals ohne Opfer abge­gan­gen? Ich war irritiert und ver­wies auf Zah­len, auf die Be­wei­se in Fülle. Die Bücher der Un­ter­drücker, die sie akri­bisch geführt hatten, reden doch eine eindeutige Sprache. Dürfen wir das igno­rie­ren, frag­te ich, oder wie gehen wir damit um? Wor­auf mich bei­de, Anna und Wolf, an­­sa­hen, als hätte ich eine un­schick­­liche Fra­ge ge­stellt. Um­ge­hen damit, wiederholte Wolf, wie meinst du das? Er schien für kurze Zeit zu überlegen. Ent­schei­dend ist für mich, ist für uns, er sah An­na be­deu­tungs­voll an, was künf­tig sein wird, ob wir dar­aus ler­nen und es bes­ser machen. Ja, wir soll­ten ge­stal­ten, rief jetzt auch Anna aus, was wir ge­won­nen ha­ben, und sah mich mit einem An­flug von Lächeln ge­ra­dezu her­aus­for­dernd an, ja, ge­stalten, das neue, das grö­­­ßere Land aus­rich­ten, die un­ge­zähl­ten Mög­lich­keiten nut­­zen, die sich bie­ten, und beim Schop­fe pa­cken. Neue Struk­­tu­ren, rief sie mit fester Stim­me, neue Ver­­­hal­tens­­wei­sen, neue Sicht­wei­sen, neue Men­­schen, ja, kom­plett neue.

Von Achim organisiert, einem der Ehemaligen, an den ich kei­nerlei Erinnerung hatte, begann das Klassentreffen im Zentrum der Stadt, dort, wo sich Stra­ßen­bah­nen und Busse kreuzen und auf der Ecke ein be­rühmtes Mu­se­en steht. Das Klassentreffen war, wie ich bald feststellte, nicht be­son­ders in­ter­essant, von denen, die ge­kom­men waren, taten viele, als hät­ten sie im Sy­stem keine Kar­­rieren gemacht, andere hat­ten zu flie­hen ver­sucht, wa­ren er­tappt und ins Gefängnis ge­worfen wor­­den. Über all diese Din­ge sprach man nicht, sondern blendete die Zwi­schenzeit und alles, was in ihr geschehen war, aus, blieb un­­­verbindlich, leicht obenhin mit einer Spur von Scheu, die kaum die Di­stanz überwand, die zwi­schen uns war und sich auch mit Lä­cheln nicht auflösen ließ. Alte Fotos ließen die frü­here Zeit plastisch werden, Er­in­ne­run­gen stiegen auf, ver­dich­teten sich. Vom Re­staurant ging es zu einer der zentralen Kir­chen in der Alt­stadt, wo das große Foto geschossen wer­den soll­­­te. Das Wet­­­ter war gut, die Sonne lachte und stand hoch, wir streiften auf dem Weg durch die Stadt auch den An­dre­as­berg, das Nest der Staats­­­­si­cher­heit, auf das die meisten mit Schwei­gen rea­gier­ten, obwohl sie den Ort ge­wiß kannten. Auf den brei­­­­­ten Stu­fen der Kirche nahmen wir Auf­stel­lung. Und jetzt, inmitten der Ehe­ma­ligen, dach­te ich wieder an mei­nen ver­­rückten und hartnäckigen Traum, dachte daran, die Guten von den Bösen zu tren­nen, wäre eine gute Idee. Aber wem da­von be­rich­­­­ten? Ich sah mir die Ge­sich­ter an, verglich sie mit ihren Gesichtern, als sie Schüler gewesen waren. Inzwischen waren Er­wach­se­ne aus ihnen ge­worden, ge­stan­­dene Men­­schen, vom Sy­­stem ge­präg­te. Wür­den sie die Idee begrüßen? Hella, die Deutsch­leh­re­rin, zum Beispiel oder Wal­ter, der Ar­chi­tekt, der nur noch für die Kir­­che arbeiten durf­te, Ursula, bei der es da­mals West­fern­se­hen gab. Oder Bär­bel, die nach der Wen­de ihre private Wie­der­ver­ei­ni­gung feierte, als sie ihren Freund, der in dunklen Zeiten geflo­hen war, wie­der in die Ar­me schlie­ßen konnte. Alle schienen in der Jetzt­zeit an­ge­kommen zu sein, und doch haftete ihnen et­was an, das ich nicht begriff. Viel­leicht, weil bei den meisten von einer tie­feren Hal­tung zur jüngsten Ver­gan­genheit, gar Kri­tik an den ehe­­­­ma­ligen Zu­stän­den kaum etwas zu spüren war oder aber sie ihre Mei­nun­gen für sich be­­hiel­ten, wo­mög­lich be­schäf­tigte sie der neue All­tag, mit dem sie kon­frontiert waren, voll und ganz.

Eine Aus­nah­me bildete der dürre En­zian, der aus seinen An­sichten kei­nen Hehl machte und sich mit Leiden­schaft zum Sy­stem be­kann­te. War er schon im­mer der li­nien­­treue Befür­wor­ter ge­we­sen, schon da­mals in der Klasse? Der An­­tifa­schis­mus, die Pa­ro­le Nie wie­­­­der Krieg!, die Ab­we­­sen­heit von Ar­beits­lo­sig­keit, all das zähl­­­­­­­­te er mit Stolz auf, das gu­te Mit­­ein­ander der Men­schen, die sich unter­stütz­ten und Män­gel mit Phan­ta­sie und Kre­­a­tivität über­wanden, er­träg­lich mach­­­­ten zu­min­­dest. Ich hör­te ihm lange zu, fragte schließ­lich nach sei­ner Meinung zu den Mauer­to­ten oder zum Un­­recht der Staats­­si­cher­heit. Davon wis­se er wenig, erwi­der­te er mir ge­ra­dewegs ins Ge­sicht, im üb­ri­gen sei das Pro­pa­ganda, und als sol­che im­mer der Ver­such des We­stens ge­we­sen, den Staat zu dis­kre­di­tieren. Die Din­ge sind be­kannt und er­forscht, wand­­te ich ein, durch die Un­terlagen der Staats­si­cherheit be­­wie­sen, und davon willst du nichts ge­wußt ha­ben, nicht mal etwas ge­ahnt? Nein, so deut­­­­­­lich jeden­falls nicht. Er blieb fest, wo­bei ich nicht sicher war, ob er log oder die Wahr­­heit sagte oder ein­fach nicht wuß­te, daß er log. Später, als er mich ein Stück des We­ges zum Ho­tel begleitete, dach­te ich merkwürdigerweise wie­der an mei­nen Traum, obwohl ich doch ge­rade bei En­zian kaum auf Ver­ständ­nis hoffen durfte. Warum aber nicht dem Linien­treuen da­­­von er­­zählen? Zu meiner gro­ßen Über­ra­schung hörte er zu, den Kopf auf­­merk­­­sam wie­gend. Mal an­ge­­nom­men, es gä­be all das, wo­von du sprichst, rea­gierte er prompt, dann könnte so ein, wie du das nennst, Gre­mi­um tat­sächlich helfen, die Über­zeug­ten aus­findig zu ma­­chen, die Mit­läu­fer und all die­je­nigen, die mit ihren Lip­penbe­kennt­­nis­sen nur zum Schein zu­ge­stimmt hatten. Das Gremium wür­de einen Schluß­­strich zie­hen, sagte ich, froh dar­über, daß er mei­­nen Über­­le­gun­gen we­­nig­stens ein Stück weit ­folg­te. Wir zün­­­deten uns Zi­ga­ret­ten an und standen eine Weile im trü­ben La­ter­nenlicht. Das Gre­mium könn­te aber auch, fuhr En­­zian fort, in ganz an­derer Wei­se tätig sein. Es wür­de einer gu­ten Sache die­nen, be­­harrte ich. Offenbar war er ins Nach­den­ken ge­raten. Ja, ge­wiß, run­­­zelte er die Stirn und begann dann, sto­ckend, mit lan­gen Pau­­sen zu re­de­n. Ge­wiß, klar, na­tür­lich, einmal an­ge­nom­men, es stimmt, was du sagst, was aber wä­re, wenn die Gre­­mien nicht den Auf­­ar­bei­tern un­terstellt wär­en, son­dern ihre Di­rek­tiven von an­ders­woher er­hiel­ten, wenn es um die Iden­­ti­fi­zie­­­rung der Täter nur zum Schein gin­ge, wenn es, ja, ich weiß absolut nicht wie, aber ich stelle mir vor, wenn es um an­deres ginge, um Er­ken­nung, um Prü­fung, al­so, anders ge­­sagt, wenn man sich ver­hiel­te, als suchte man Leute für neue Auf­­­ga­ben, für Auf­­­gaben, die ein grö­ßer ge­wor­de­nes Land zu ver­tei­­len hat, und von de­nen wir nicht den Schim­mer von Ah­nung ha­ben. War das eine dieser plumpen Ver­schwö­­rungs­­­theorien, sprach En­zian über ver­schwie­ge­ne Or­der, über Ge­heim­ab­kom­men et­wa, wie sie der We­sten dem Osten so gern unter­ge­scho­ben hat­te? Und an was denkst du? Ich wur­de un­ge­duldig. Nun, sagte En­zian, den Rauch lang­sam aus­sto­ßend, der Osten ist als Al­­­ternative weg­ge­fal­len, der We­­sten ­breitet sich un­ge­hin­dert aus, er muß auf nichts mehr Rücksicht neh­­men, niemand hin­dert ihn da­ran, zu ex­pan­die­ren, das ist seine große Chan­­ce. En­zian re­­­dete und re­dete, als sei al­les, was er be­schrieb, bereits Re­a­li­tät. Was meinst du mit neu­en Auf­ga­ben, welche soll­ten das sein? Kei­ne Ah­nung, er schien zu überlegen und zün­dete sich wieder eine Zigarette an. Braucht man nicht im­­mer fähige, professionelle Leu­­­te? Vor­aus­ge­setzt, es gab sie im alten Sy­stem, das heißt, du hättest recht mit dei­ner Be­haup­­tung von der Existenz dieses Rie­sen­apparats, er hätte also tat­säch­­lich existiert und wä­re nicht bloße Er­fin­dung eu­rer Propa­gan­da. Für ei­nen Au­gen­­­blick dach­te ich an meinen Wirt, an die Bur­schen, die ihn ein­­ge­buchtet hatten, und die er alle ge­kannt hat­te, und mit de­nen er heute wieder sein Bier trinkt. Und dann fiel mir Anna ein. Hatte sie nicht von großen Auf­gaben ge­spro­chen und be­­kun­det, das neue, grö­­­ßer gewor­dene Land ge­stal­ten zu wol­­­len, und hat­­te ich sie nicht am Ein­­gang des dunklen Hauses ge­sehen? Der un­ter­ir­di­sche Raum, schoß es mir durch den Kopf, hatte er mit dem Gre­mium zu tun, und wenn ja, was be­trieb man dort, Auf­ar­bei­tung oder Re­kru­­tie­­rung? War das das Gre­­­mi­um? Wur­­de das Papier, von dem ich nur va­ge und un­deut­lich ge­träumt hat­te, dort ver­ge­ben, vergeben an Leute zum Bei­spiel, die sich, un­­ge­ach­tet ihrer Ver­gan­gen­heit, be­din­gungs­los ein­set­zen lie­ßen und be­nutzen in der Art, wie sie frü­her agiert hat­­ten, nur bes­ser, ef­fi­zienter, eben vierzig Jahre weiter? Spe­ku­la­tio­n, dach­te ich, nichts wei­ter, doch obwohl, mal an­­ge­­nom­men, da wäre et­was dran? Ich schüttelte den Kopf, stam­­­melte etwas, wäh­­rend Enzian mir zum Ab­schied mit einem Lächeln auf den Lippen die Hand reichte und in der Alt­stadt ver­­schwand.

Für Wolf war der seltsame Raum, den ich ihm am nächsten Tag in lebhaften Farben schil­derte, nichts besonderes. Er gab sich Mü­­he, nachdenklich zu erscheinen, und spar­te auch nicht mit ver­harmlosenden Mut­­ma­ßun­­gen, die mir wenig glaub­­­­haft er­schie­­nen. Meine Vermutung war, er habe nicht zu­geben kön­nen, von dem Raum gewußt zu haben. Es könn­­­te sich um völlig nor­male Räu­­me handeln, ver­­se­hentlich un­­ver­­schlossene oder ge­ra­de erst ein­­ge­rich­tete und da­her ohne Fir­men­schild am Vor­der­haus, so seine Rede. Das klang plau­si­bel, fand ich, aber war es wirk­lich so? Die­ser mit mo­dernstem Mobiliar aus­ge­stattete un­terir­di­sche Saal muß­te, das spürte ich deutlich, eine andere Be­wand­t­­nis ha­ben. Au­ßer­dem hat­te ich An­na ge­sehen, und daß ich sie gese­hen hat­te, davon war ich heute mehr über­zeugt als in der letzten Nacht. Ihre Anwesenheit ver­schwieg ich Wolf zunächst, die Fragen aber blieben: Wel­che Rol­­le spiel­te sie, wa­rum hat­te sie mich, als sie mich be­­merkt hat­te, und da­ran zwei­felte ich nicht mehr, nicht be­grüßt? Wir sa­ßen wie­der in einem der Ca­fés in der In­nen­stadt, einem klei­nen Eck­laden am Fluß, der die Stadt teilt, üb­rigens direkt am Ende der Straße ge­legen, in der ich das unter­ir­dische Gelaß ent­deckt hatte. Es war warm und die Menschen leicht be­kleidet, sie knif­fen die Au­gen in Rich­tung Son­­­ne zu­sam­­­men­. Ich woll­­­te mit dir, lenkte ich auf mei­nen Traum über, noch über etwas anderes spre­chen. Bevor ich mich ins Auto setz­te und hierher fuhr, hat­te ich einen sehr un­ge­wöhn­li­chen Traum, einen Traum mit ei­ner, wie mir scheint, gran­­dio­sen Idee. Er handelt, nun, wie soll ich das sa­gen, von Schuld, von der Mög­lich­keit, mit dem Schmutz der Ver­­­gan­gen­heit fer­tig zu wer­­den, also die Men­­­schen vom Miß­­­trau­­en zu be­freien, das sie einander entge­gen­brin­gen. Wolf saß auf­recht und schien ge­spannt zu­zu­hören, kon­­­zen­triert. Und dann er­zählte ich, nannte die Punkte, die ich er­in­nerte, wo­zu Wolf zu­nächst schwieg und an mir vorbei blick­te in den Raum. Eine schö­ne Ge­schichte, sagte er schließ­lich, als ich zu En­­de war, nicht ohne iro­nischen Un­ter­ton. Fein aus­ge­dacht, wirk­­­lich ausge­zeichnet, bra­vo! Was meinte er? Wie­so ei­gent­lich Miß­­trauen zwi­schen den Men­schen, wie kommst du da­rauf? Sei­ne Worte er­schie­nen mir fremd, ich dach­te un­will­­kürlich an mei­nen Wirt und sei­ne alten Freun­de vom An­dre­­­asberg. Vertraute denn er sei­nen ein­sti­gen Pei­ni­gern wie­der? Wir ha­ben doch alles ge­tan, sagte Wolf, was jetzt nach Recht­fertigung klang. Wir ha­ben die Gu­­ten von den Schlech­ten ge­trennt, ha­ben die Schlech­ten zu stra­fen ver­sucht, und jetzt ma­chen wir ­etwas Neu­es, etwas in der Art, wie Anna das ge­­stern an­gedeutet hat. Worauf ich ihn wohl ziem­lich un­gläubig an­sah. Meinst du nicht, daß da noch viele sind, die die neue Zeit nicht wollen oder gar be­kämpfen, die schieß­bereiten Gren­­zer, die Leute von der Staats­­sicher­heit, die Lehrer und Par­tei­funk­tionäre, die vielen Mit­­­läu­fer? Doch, doch, das glau­be ich, be­teu­erte Wolf, doch wie etwas ahn­­den, wo kein Wis­sen ist, kei­n Beweis, kei­ne Zeu­gen? Zu vie­le sind in De­ckung ge­gan­­gen, auf Tauch­sta­tion, sind bra­ve Leu­­te ge­wor­den nach außen. Aber er­­stens ken­nen wir sie nicht, und zweitens, und das ist wich­tiger, viel wich­tiger, sind sie denn über­­haupt für Neues ge­eignet? Er mach­­­te eine Pause und sah mich fragend an. Ja, du hörst rich­tig, nach zwei Dik­ta­turen sind sie er­le­digt, fuhr er schließlich fort, un­brauch­bar, oder bes­ser: ver­braucht, stumpf. Du schreibst sie ab?, fragte ich noch mal. Ja, sagte Wolf und sah mich wieder sehr di­rekt an. Ja, ich schreibe sie ab, und ich mei­ne gar nicht die Ver­bre­cher, die Tä­ter, jene, die ge­schos­sen oder das Schie­ßen be­fohlen haben, son­­dern die ein­fachen Leu­te. Du gibst sie auf, insi­stierte ich. Ja, rea­gier­te Wolf, ruhig und kühl, als sei er nicht zum er­sten Mal mit dieser Frage kon­fron­tiert wor­den. Ich dachte an das Leben im Getto, zwischen Zäunen, ent­si­cher­ten Waffen und scharfen Hun­den, und das alles auf ei­nem Lan­de, das von die­ser Betonmauer ge­teilt und mit Giften zuge­pfla­stert war, da­mit auf den Todes­strei­fen nichts mehr ge­deiht. Die Gren­­zer, die Funk­­tio­näre in den Be­hörden, der Ap­parat, der plötz­­­lich nie­der­­­gegangen war, von einem Tag zum an­deren auf­­gehör­t hat­te, wo sind sie ge­blie­ben, was tun sie heu­te?, fragte ich Wolf. Er stimme mir doch zu, nickte er und zuckte zu­gleich mit den Ach­­seln, wäh­rend ich an mein ge­stri­ges Er­leb­nis dachte, an An­na, die mich nicht be­­merkt oder so getan hat­te, als be­merke sie mich nicht. Was tut eigentlich, fragte ich, um das Thema zu wech­­seln, was tut Anna hier, kommt sie aus unserer Stadt? So­weit ich weiß nein, gab Wolf zögernd zurück, nein, sie kommt aus Sach­sen … Und heu­te? Ich weiß nicht, sagte Wolf, sie hat mei­nes Wis­sens ei­nen politi­schen Auf­trag, etwas Gro­­ßes. Und wo­her kennst du sie? fragte ich, leicht ver­wundert über meine un­ver­blümte Neu­gier. Ach, sagte Wolf, das ist eine lan­ge Ge­schich­te … frü­her, noch in Zei­ten der Unter­drü­ckung, da wa­­ren wir mal zu­sam­men, ein Paar wa­ren wir, ein richtiges Paar, für mich war es die große Liebe, für sie eher, nun ja, viel­leicht eine Sta­tion von vielen. Sie hatte Schwie­rig­keiten mit dem Sy­stem, war aber im Grun­de nicht da­gegen, pa­ra­do­xer­weise so­gar recht privi­le­giert, denn die Eltern waren ho­he Of­fiziere der Staats­­­­­­­sicherheit ge­we­sen, Anna wur­de also gefördert, durfte eine Zeit lang reisenUnd heute, die­se po­li­ti­sche Auf­gabe, die sie an­­­geblich hat, wo­rin be­steht sie? Wolf zö­­gerte. Wußte er es nicht oder wollte er sich nicht äu­ßern? Ich kann es dir nicht sagen, beim besten Willen nicht, er­widerte er schließlich, irgend et­was Großes muß es sein, et­was, das uns alle be­trifft. Ich frag­te nicht weiter, er­wähnte aber ab­­schlie­ßend, daß ich sie ge­se­hen hätte ge­stern, Anna hätte ich ge­se­hen, sie sei in dem Haus ver­­­schwun­­­den, zu dem dieser un­terir­di­sche Kon­­fe­renz­rau­m ge­­­­­­­hört, nachts weit nach Zwölf, ge­­rade mal dreißig Me­ter von mir entfernt.

Den Kopf voller neuer Bilder, in Ge­danken die Begeg­nun­­gen mit den Klas­senkameraden, mit Anna und Wolf und meinem freund­lichen Wirt hat­te ich mei­ne sie­ben Sachen ge­packt und war mit ge­misch­ten Gefühlen in den Wagen gestie­­gen, um die Heim­rei­se anzutreten. Ir­gendwie lag jetzt, dachte ich, während ich fuhr, ein Schat­ten auf der Stadt, das Bild, das ich bei meinen letz­ten Be­­suchen gewonnen hatte, war eingetrübt, beschädigt. Hatte ich den Ter­ror aus der Systemzeit vergessen, hatte ich nichts mehr von den Genossen auf dem An­dre­as­berg wis­sen wol­len, von über­füll­ten Gefäng­nis­sen und Pro­zes­sen unter Aus­­­­­­schluß der Öffent­lich­keit? Dann rief Wolf an. Ob ich Lust hät­te, ihn zu treffen, am besten sofort, wenn es mir nichts aus­mache. Doch, sagte ich, es macht mir etwas aus, ich bin bereits auf dem Heimweg. Schade, sagte er, er sprach be­tont lang­sam. Du hast doch von diesem Raum er­zählt, die­sem unter­ir­dischen Saal in der Jo­hannesstraße. – Und? Wolf schien zu über­le­gen, er schwieg. Was ist, Wolf, sag schon? In diesem Raum, den du ge­se­hen hast, ist heute nacht ein Feuer aus­ge­brochen, er ist total aus­­­ge­brannt, alles weg, alles ver­­brannt, Schluß. Und was ist da­ran ko­misch, frag­­te ich. Komisch ist das nicht, er­klärte er. Daß es ge­brannt hat, wis­sen wir, aber wa­rum und wem der Raum ge­hörte und vor allem, was sich dort ab­ge­spielt hat, da­rüber wis­­sen wir nichts, es gibt kei­nerlei In­for­ma­tion, die Po­lizei hält sich bedeckt und verhängt eine Art Nach­rich­ten­sperre, nichts dringt nach draußen, das wird ein Fall für, na, ich weiß nicht für wen! Und wir, die Jour­­nalisten, sind re­gel­recht ab­ge­wim­melt wor­den, nie­mand hat ge­plaudert, selbst üb­li­che Quel­len schwei­gen, eigen­ar­tig nicht? – Eigenartig, daß Du Dich noch immer als Jour­nalist aus­gibst, obwohl Du doch anderes warst, sagte ich auf dem Parkplatz, auf den ich inzwischen ge­fahren war … Na­ja, das ist lange her und war harmlos, pro­testierte er halbherzig. Im­merhin war die Ent­deckung des Raums wohl etwas besonderes. Wolf machte Hm. Es kommt leider noch bes­­­ser, sag­te er leise. Was noch? Er druck­ste herum und sagte schließ­lich mit leiser Stimme, daß An­na ver­schwun­­den sei, wie vom Erd­boden ver­schwun­den, ver­­stehst du, ihr Han­dy ist tot und zu Hau­se, da ist sie auch nicht, nir­gends ist sie. Sie ist viel­leicht, ver­suchte ich ihn zu beruhi­gen, weg­ge­fah­ren, ver­reist, ist es nicht für Sor­gen zu früh? Und über­haupt, ihr seid doch längst nicht mehr zusammen? Wolf schien den Kopf zu schüt­teln. Das ist es nicht, er­wi­derte er sehr leise, wir hat­ten verein­bart, uns ein Zei­chen zu geben, wenn etwas aus dem Ruder läuft, und sie hat es ge­geben – es be­deu­tet: höch­­­ste Ge­fahr.