Mischa unter den täglich Wartenden am großen Platz, voller Erinnerungen ist er, wenn er hier ist, voller Bilder, die ihn leiten, führen, bis er vor den Sperren steht, bis er weiß, hierher gehörst du nicht, der Ort, die Zeit, das Hiersein, bloßer Zufall, ein Fingerschnippen genügte, und weg wärst du. Er sieht die Trauer der anderen neben sich, hinter sich, ihre Fragen, ihre Blicke stumm auf das Tor gerichtet, die unerreichbare Nähe auslotend, ein Weg von Sekunden, eine nichtige Distanz, oder täuschen Augen und Sinne wie im Rausch? Langhans und Schadow, hört er jemanden plötzlich sagen, die Stimme ist fest, touristisch, ohne Angst. Ein Ausländer, glaubt Mischa. Baumeister, große Künstler, belehrend darauf ein zweiter, so Ende Achtzehntes, wenn ich nicht irre. Langhans, Schadow im tief gestaffelten Sperrbezirk, die Demarkationslinie, was ist das, ist himmelblau.
Die Hände am rostigen Metall der Barriere, tastet Mischa die nahen Säulen des Tors ab und denkt sich, da hoch klettern am verwitterten Stein, und spielt es durch. Einmal, zweimal, jedes Mal. Halt finden in der Harmonie der kannelierten Säulen, die üppige steile Attika erreichen, über die Inschriften, die Profile, das Poröse einfach hinweg, ignorier doch den Goldenen Schnitt. Zu den Pferden, die sich stadteinwärts aufbäumen wie für ein Foto, die Hufe prächtig hoch wie damals, sah ich sie überhaupt, an den Pferden vorbei und schnell der Göttin unter flackernder Fahne einen Gruß, einen flüchtig scherzenden, während du Anlauf nimmst, und jetzt, der Sprung, ja … Auffangen wird er mich, der Himmel, so klar und weit, so menschenfreundlich, wie er tut, wie unverschämt blau er den Koloß umkost und mildert zu leuchtendem Stein, und auf den Seitenflügeln das brüchige Rostrot der Stacheldrahtschleifen, sonst nur versöhnende Farben, soweit der Blick reicht, verschwenderische, die nachsichtigen Liebhaber der Stadt.
Die Jahre denkt Mischa jedes Mal zurück, vier, fünf ist es her, doch wie sich im Windstillen Räume merken, diese gefräßige Zeit. Damals ist er durch das Tor gegangen, lief einfach durch, schlenderte, kaum sechzehn, an den ehernen Säulen vorbei, flanierte, promenierte, ein Spaziergänger, der sich ausprobieren möchte als Flüchtender, und diese Neugier im Kopf und das rasende Herz, das pochte und schlug in Brust und Hals …
Nichts passierte, erinnert er sich. Nichts. Kein Anruf, keine Papiere, nur er, der ging. Ängstlich hatte er die Hüter beobachtet, aus den Augenwinkeln sozusagen, während ihn schon der Jahrhundertschatten des Tormassivs an der Schulter berührte, langsam, unschlüssig, als habe er sich verirrt, als wüßte er nicht weiter, doch dann das Weitergehen wie ein Abenteuer, vielleicht zu langsam, zu bedacht, doch niemandem fiel es auf.
Jetzt, inmitten der Menschen, dieses Undenkbare, diese Auslöschung. Stillstand. Jetzt die Sperren, das ewige Eis, die Wucht der Betonleibe, der großmäuligen Stacheldrahtreusen auf den mannshohen Wänden und Hüter davor, fahlgrau, die Hände an ihren dienstbaren Waffen, Schußfolge, Durchschlagskraft, Mischa nickt, er kennt die verläßliche Technik, er hatte sie erlernen sollen, nutzen auf Befehl.
Immer wieder springt das Denken zurück, kreist um diesen einen Tag, eine Schleife wie endlos leere Zukunft. Es wird hell gewesen sein, denkt Mischa an den Gesichtern der Umstehenden vorbei, nur weg von ihnen, nicht hinsehen. Sonnig wars, klar, sommerlich mild, er hatte den Geruch der S–Bahn verlassen, die Stimmen der Lautsprecher, die Pfiffe, die gellten, sich brachen am Eisenschwarz der Hallengerippe über dem singenden Gleis, er war an den Schaukästen der Theater vorbei auf die Straße getreten und bald die Allee hinaufgegangen, hohe Fassaden rechts und links zum Empfang, die sich zusehends weiteten, und das junifarbene Grün der Bäume, das sich über ihn wölbte wie eine tröstende Hand, ihn abschirmte, ihn schützen würde auf der anderen Seite, da, jenseits des Tors, lag ja alles, durch die flutend hellen Zwischenräume war sie klar zu sehen, die simple Fortsetzung der breiten Allee, die hochfingernde Säule, ihr Gold weithin leuchtend, und Wohnhäuser, die sich höflich niedergelassen hatten im Park, alles wie eine Welt …
Der Schmerz am Arm, eine Aufforderung, weiterzugehen. Der Hüter, gleichaltrig etwa, schaut ihn an, unsicher, verbissen, die Verachtung seiner Aufgabe, er lockert den Griff, worauf Mischa zurückweicht in die Menschengruppen hinter ihm. Eine Öffnung wie eine Schneise, wie ein Schoß. Er fällt, stößt sich am Boden, bemerkt die Füße der Unschlüssigen, Hände, die nach ihm greifen, verhohlen, zaghaft, sich nichts anmerken lassen jetzt, man steht ja nur dabei, hier, am Ende der Welt. Zufällig, denkt Mischa, er denkt an Schmetterlinge, Gedichte, an Stabhochsprung. Einmal wird es gelingen, immer den Händen der Engel entgegen, werden sie da sein, ihn halten, wer weiß.
Das Tor, der Platz davor am Ende der schönen baumbestandenen Allee, ein deutscher Boulevard wie keiner, und die Straßen und Wege, die, aus Engelsicht, sternförmig, auf ihn hinführen. Aus allen Richtungen Pulsieren, Bewegen, ein Strömen auf den Steinquadern der Wagengassen, die sich abschleifen in den Zeiten zu unerhörtem Spiegelglanz, Reiter, Fuhrwerke, Taxis, Fahnenträger in forderndem Schritt, Ausflügler, Paare, Menschen ohne Zahl sind unterm Tor zu sehen, auf der großen Achse der Stadt. Und später, jetzt, diese Stockung, das Zurückbleiben der anderen, ihr träumerischer Abstand von Eisen, Beton, Tod.
Mischa ist damals einfach durchgegangen, er ist durch die Säulenreihe geschlendert, die selbstverständlichste Sache der Welt. Verwundert sieht er zurück, immer wieder, tatsächlich, sie kontrollieren die Ausweise, eine Stichprobe aus Langeweile, purer Laune, Schwein gehabt. Die andere Seite, wird er frohlockt und die blauen Uniformen belächelt haben, blau und harmlos, kleiner werdend, ungefährlich vor dem Grau der verwitterten Torsäulen, aber welch sonniger Tag! Längst ist er verschwunden, einfach die breite Allee hinauf, ungewohnt leicht wird ihm plötzlich gewesen sein, ohne zu wissen, warum, er wird sich umgesehen, den fremden Geruch bestaunt haben, das Niemandsland erkundet, das nicht existierte, und vielleicht etwas empfunden haben, was wir hilflos Verheißung nennen. Menschen werden ihm begegnet sein, ihn lächelnd übersehend, und er neben ihnen mit dieser unerklärlichen Weite in der Brust …
Immer wieder ist er zum Tor zurückgekommen. Viele Male. Die Figuren unter der Fahne, die hohe Attika, die Pferde, die lenkende Viktoria, all das hat ihm die Mutter früh erzählt, alles, was sie von der Stadt wußte, hat sie dem Sohn weitergegeben, alles von ihrer Stadt. Doch wenn er, sich an das Erzählte erinnernd, auf das Tor zuging, in Gedanken, im Zug, auf den letzten Metern erregt wie beim Rendezvous, war ihm die Geste der Quadriga gleichgültig, ihn zogen die tragenden Säulen an, die schimmernden Zwischenräume, der Blick auf die andere Seite, der farbigen Hälfte der Stadt, das Licht, das sich in einer Weise verschwendete, die ihm unglaublich erschien.
Irgendwann konnte er sich an die konkreten Male seiner Gänge zum Tor nicht mehr erinnern. Waren es sonnige, trockene Tage oder regnerisch kalte gewesen? Hatte er den Weg in Gedanken getan oder tatsächlich unter den Linden zu Fuß? Nicht, daß ihm die Einzelheiten entfallen wären, nein, eher ist ihm, als hätten sich die ungezählten Annäherungen in seiner Brust auf einen einzigen Tag zusammengezogen, auf einen schroff idealen, unwirklichen Tag, den er nie erlebt hatte, obwohl er sich aus allen seinen Gängen zusammengesetzt haben mußte. Ein Tag, eine lange Stunde, ein unendlicher Augenblick, der fortdauert und nicht enden wird, eine einzige, Jahre währende, ein Leben andauernde Niederlage.